Zwei Gesellschaftsprojekte auf Kollisionskurs

Im Gespräch mit Martina Sabra kritisiert die Vorsitzende der "Koalition für die Frauen Tunesiens", Saloua Guiga, das mangelnde Demokratieverständnis der Islamisten und die prekäre Situation der Frauen in ihrem Land.

Von Martina Sabra

Frau Guiga, das Weltsozialforum in Tunis im März 2013 war das erste in einem arabischen Land. Auf der Tagesordnung dominierten die arabischen Revolutionen sowie Genderthemen. Beteiligt war auch die "Koalition für die Frauen Tunesiens". Welche Bilanz können Sie nach dem mehrtägigen Treffen ziehen?

Saloua Guiga: Das Weltsozialforum war für uns tunesische Frauen eine Gelegenheit, uns vier Tage lang als Weltbürgerinnen zu fühlen. Das Weltsozialforum erarbeitet gemäß seiner Charta keine verbindlichen Deklarationen. Aber es gibt Plattformen, die von einzelnen Gruppen erarbeitet werden. Dieses Forum hat uns die einmalige Gelegenheit geboten, Frauen aus der ganzen Welt kennenzulernen, gemeinsam zu diskutieren, zu lernen und uns zu vernetzen.

Sie sind Koordinatorin und Sprecherin der "Koalition der Frauen für Tunesien". Die Koalition ist derzeit das größte Bündnis laizistischer, feministischer Frauen in Tunesien. Wie ist dieses Bündnis entstanden?

Guiga: Als Verein sind wir seit September 2012 registriert. Aber der Startschuss für das Bündnis fiel schon kurz nach dem Ende des Regimes Ben Ali, nämlich im Januar 2011. Viele feministische Frauen suchten damals nach einer Möglichkeit, sich zu organisieren: einzelne Frauen, Akademikerinnen, Frauen aus sozialen Vereinen, aber auch Frauen aus den Frauenkommissionen der Gewerkschaften und der Parteien.

Plakate mit Aufrufen für mehr Meinungsfreiheit in Tunesien; Foto: Khaled Ben Belgacem/DW
Demokratiebildung unter schwierigen Bedingungen: In Tunesien hat der Druck auf Frauenrechtlerinnen und politisch Andersdenkende zugenommen. Der Mord an dem renommierten tunesischen Oppositionellen Belaid vor wenigen Monaten warf ein Schlaglicht auf die grassierende Gewalt und die Krise der Demokratie in dem nordafrikanischen Land.

​​Unsere erste gemeinsame Aktion bestand darin, die Feierlichkeiten zum 13. August 2011 zu organisieren. Der 13. August ist der Tag, an dem die Reform des tunesischen Personenstandsrechts in Kraft trat, der sogenannte "Code du Statut Personnel" (CSP).

Diese Reform gab den tunesischen Frauen sehr viele Rechte, und es uns wichtig, dass der CSP nicht abgeschafft, sondern weiter zugunsten der Gleichberechtigung reformiert wird. Bei der Veranstaltung im August 2011 wurde uns bewusst, welche Mobilisierungskraft das Thema Frauenemanzipation hatte. Wir schafften es, zehntausende Menschen zu mobilisieren, Männer und Frauen gleichermaßen. Das Sportstadion in Menzeh VI in Tunis war übervoll.

Welche Ziele verfolgt die "Koalition für die Frauen Tunesiens"?

Guiga: Derzeit entstehen überall in Tunesien hunderte neue Frauenvereine. Sie sind zum Teil sehr klein, und manchmal haben sie Schwierigkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Indem wir zusammenarbeiten, können wir zum Beispiel gemeinsam unsere Kompetenzen entwickeln und so mehr erreichen. Die Koalition umfasst mittlerweile über dreißig Vereine. Sie arbeiten ganz unterschiedlich. Einige kümmern sich um die besonderen Probleme der Frauen in den ländlichen Gebieten, wo die Bildungsangebote und die medizinische Versorgung oftmals unzureichend sind. Auch die Arbeitslosigkeit ist dort besonders hoch. Frauen sind von all diesen Problemen besonders betroffen.

Andere Organisationen der Koalition betreiben politische Aufklärung oder Lobbyarbeit, um die bestehenden Gesetze zu verbessern. Der gemeinsame Nenner der Koalition sind der Genderansatz und die Universalität der Menschenrechte. Die internationalen Konventionen über Menschenrechte sind unser Bezugsrahmen, und das ist die gemeinsame Charta, die wir verabschiedet haben. Unserer Koalition gehören nur solche Organisationen an, die sich auch zu dieser Charta verpflichten.

Unter dem früheren tunesischen Regime hatten die tunesischen Frauen zwar viele Rechte, aber es gab dennoch Diskriminierungen, die mit dem Islam begründet wurden. Die neue tunesische Verfassung ist noch in der Diskussion. Worin bestehen Ihre diesbezüglichen Forderungen? Wie sollte die Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Verfassungstext verankert werden?

Guiga: Als im vergangenen Sommer der erste Verfassungsentwurf bekannt wurde, hat uns das erschreckt. In Artikel 28 hieß es etwa, dass die Frau eine "Ergänzung" (frz.: complémentaire, arab.: takaamul) des Mannes sein sollte. Wir haben daraufhin mehrere zehntausend Menschen gegen den Verfassungsentwurf auf die Straße gebracht – auch viele, die nicht in der Koalition sind. In Zusammenarbeit mit den Frauenkommissionen der politischen Parteien haben wir schließlich eine Alternative zum bisherigen Verfassungsentwurf formuliert.

Worin liegt die Brisanz des Begriffes "komplementär"?

Guiga: Komplementarität ist ein Begriff, der auch von den Muslimbrüdern benutzt wird, die – genau wie die "Ennahda" – behauptet, die Nuance zwischen Gleichberechtigung und Komplementarität sei nur minimal und daher eigentlich nicht der Rede wert. Doch der Unterschied zwischen "Gleichberechtigung" und "Komplementarität" ist nicht minimal, sondern fundamental.

Islamisten demonstrieren in Tunis; Foto: Reuters
"Der Koran ist unsere Verfassung": Islamistische Machtdemonstration in Tunis. Die tunesische Feministin Saloua Guiga warnt vor einer zunehmenden Intoleranz der Islamisten gegen Frauenaktivistinnen und liberale Kräfte in Tunesien, die universelle und humanistische Werte als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens favorisieren..

​​Dahinter verbergen sich zwei verschiedene Gesellschaftsprojekte, die nicht miteinander vereinbar sind. Das eine Projekt bezieht sich auf die Scharia, so wie sie heute von den islamistischen Parteien vertreten wird. Wir dagegen beziehen uns auf universelle Werte und auf die internationalen Konventionen. Das sind zwei völlig verschiedene Weltsichten. Die eine ist restriktiv, die andere universell und humanistisch.

Die Islamisten berufen sich auf die arabisch-islamische Identität. Kann man das Thema Identität ausblenden?

Guiga: Diese totalitären Identitätsdiskurse können nur zur Gewalt führen. Ich sehe zwei Gesellschaftsprojekte auf Kollisionskurs. Damit will ich sagen, dass die demokratische Elite die Existenz der Islamisten und ihre Rechte toleriert. Ganz anders dagegen die Islamisten: Für sie gibt es nur eine Wahrheit. Wenn sie von Identität reden, dann meinen sie lediglich eine bestimmte Weltsicht, die rein islamisch ist. Aber die tunesische Gesellschaft ist offen, sie kann nicht in einer islamistischen Vision eingesperrt werden.

In Tunesien gibt es Muslime, Christen, Juden, Atheisten. Und auch die Zahl der Atheisten ist nicht zu unterschätzen. Ich persönlich kenne sehr viele. Ich bin sicher, es sind Zehntausende, wenn nicht gar mehr. Aber diese Menschen haben Angst, offen ihre Meinung zu sagen. Deshalb fragen wir uns: Mit welchem Recht zwingt man die Gesetze einer einzigen Religion allen anderen auf?

Manche Beobachter vermuten, dass nach der kommenden Parlamentswahl die Sammlungsbewegung "Nidaa Tounes" und die "Ennahda" eine Koalition bilden könnten. Was würde das für die Frauenrechte und die Verfassung bedeuten?

Guiga: Das wäre gefährlich, doch bisher gibt es keine offiziellen Verlautbarungen in dieser Richtung. Das war aber auch bei den letzten Wahlen so. Die "Ettakattol" zum Beispiel hatte zunächst eine Koalition mit der "Ennahda" abgelehnt. Aber dann sind sie doch darauf eingegangen, aus politischem Kalkül. Aber egal ob links oder rechts: Die Frauen werden gewiss immer für ihre Rechte kämpfen müssen.

Interview & Übersetzung aus dem Französischen: Martina Sabra

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de