Interview mit der pakistanischen Regisseurin Sharmeen Obaid Chinoy

Die Filme der vielfach preisgekrönten pakistanischen Dokumentarfilmerin Sharmeen Obaid Chinoy decken die dunkle Seite der pakistanischen Gesellschaft auf. Damit nicht genug: Zum Thema ihrer Filme startet sie oft gleich ganze politische Kampagnen. Auch diesmal - nachdem ihr Film "A Girl in the River" über Morde an Mädchen für einen Oscar nominiert wurde.

Von Christine-Felice Röhrs

Ihre Oscar-nominierte Dokumentation "A Girl in the River" handelt von Saba, die sich verliebt und unerlaubt geheiratet hat. Ihr Vater und Onkel wollen sie ermorden, weil sie finden, Saba habe Schande über die Familie gebracht. Sie überlebt knapp. Wieso haben Sie sich für den neuen Dokumentarfilm für dieses Thema entschieden?

Sharmeen Obaid Chinoy: Ich wollte Sabas Geschichte erzählen, um eine nationale Debatte zu starten. Viele Pakistaner halten Ehrenmorde für eine Familiensache und finden dass man sie weder hinterfragen noch kritisieren sollte. Für mich waren sie nie etwas anderes als kaltblütige Morde, gerechtfertigt mit "Kultur" oder "Religion".

Wie oft geschieht so etwas in Pakistan?

Chinoy: Ehrenmorde sind weit verbreitet. Mehr als 1.000 Frauen und Mädchen werden jedes Jahr im Namen der Ehre getötet. Viele weitere Fälle werden nie offiziell registriert. Saba ist ein ungewöhnlicher Fall, weil sie überlebt hat. Im Film können wir einen seltenen Einblick nicht nur in die Vorgeschichte solcher Morde geben, sondern in den Druck, den überlebende Opfer aushalten müssen.

Wie sieht das aus?

Chinoy: Ich hatte einen Zeitungsartikel über Saba gelesen und sie im Krankenhaus besucht, wo sie behandelt wurde. Wir haben dort Anfang 2014 mit der Arbeit begonnen und sind Saba dann für ein Jahr gefolgt. Anfangs war sie so eine Kämpferin. Sie wollte Gerechtigkeit. Aber letztlich haben die Gemeindeältesten soviel Druck ausgeübt, dass sie ihrem Vater vergeben musste.

Nach der pakistanischen Gesetzeslage bedeutet das, dass das Verfahren beendet ist. Der Täter kommt davon. Ohne Strafe. Experten sagen, dass diese Vergebungsklausel dafür verantwortlich ist, dass die meisten dieser Morde nie geahndet werden. Denn weilsolche Morde oft innerhalb der Familie stattfinden, vergeben die Verwandten ihnen, um das Funktionieren der Gemeinschaft zu erhalten, oder gegen Geld. Oder das überlebende Opfer wird dazu gezwungen. Das wollten Sie so aber nicht stehenlassen.

Chinoy: Während wir gefilmt haben, ist mir erst richtig bewusst geworden, welcher Haltung wir in diesem Land gegenüberstehen. Ich habe Sabas Vater besucht, und er hat darauf beharrt, das Richtige getan zu haben. Wir brauchen Impulse, um das Gesetz zu ändern. Deshalb trage ich diese Botschaft in die Zeitungen, Fernsehsender, Radios und sozialen Medien.

Und das scheint ja zu klappen - Glückwunsch!

Chinoy: Ehrenmorde wurden bisher oft mit dem Islam assoziiert. Aber ich denke, durch den Film und unsere Kampagne lernen die Menschen, dass sie nichts mit unserer Religion oder Kultur zu tun haben. Und dass Premierminister Nawaz Sharif sich hinter uns gestellt hat, ist monumental wichtig und hilft sehr, die Haltung zu Ehrenmorden in der Gesellschaft zu verändern!

Er hat den Film vor 200 Gästen aus der Regierung gezeigt, hat seine Unterstützung verkündet, und sein Rechtsberater hat gerade gesagt, dass das bestehende Gesetz schon bearbeitet wird. Saba wird das sicher freuen. Wie geht es ihr heute?

Chinoy: Sie lebt jetzt mit dem Mann, den sie unerlaubt geheiratet hatte. Sie haben gerade ein Kind bekommen. (dpa)

Das Gespräch führte Christine-Felice Röhrs.

Sharmeen Obaid Chinoy (37) lebt in Karachi und ist Journalistin und Dokumentarfilmerin. 2012 gewann sie einen Oscar für ihren Dokumentarfilm "Saving Face" über die Opfer von Säureangriffen auf Frauen. Obaid Chinoy bekam auch zwei Emmys, für "Saving Face" wie auch für ihre Dokumentation "Pakistan's Taliban Generation" in 2010.