''Der arabische Frühling könnte sich als Götterdämmerung erweisen''

Mohamed Turki, philosophischer Dozent an der Universität Tunis, spricht im Interview mit Ceyda Nurtsch über die Chancen und Risiken des arabischen Frühlings und weshalb ein interkultureller Ansatz bei der Schaffung neuer Demokratien unausweichlich ist.

Von Ceyda Nurtsch

Sie gelten als kritischer Beobachter der politischen Entwicklungen in den arabischen Ländern. Mittlerweile gehen die Menschen in Syrien seit einem Jahr auf die Straße. Hat der arabische Frühling Erwartungen hervorgebracht, die er nun nicht erfüllt?

Mohamed Turki: Die Entwicklungen in den arabischen Ländern hatten gut angefangen, sie kündigten in der Tat einen Frühling an. Man hatte das Gefühl, dass der arabische Frühling die Revolution zum Blühen bringen wird. Nicht ohne Grund hat man die Revolution in Tunesien die "Jasminrevolution" genannt. Allerdings haben sich das Ergebnis und die Konsequenzen des Prozesses der Demokratisierung in diesen Ländern leider in einen heißen und blutigen Sommer verwandelt.

Der Herbst, um weiter bei diesem Bild zu bleiben, hat gezeigt, wie die Aufstände immer häufiger blutig niedergeschlagen werden. Das beobachteten wir in Libyen, aber auch im Jemen und vorher in Bahrain und erleben es derzeit noch in Syrien. Das war nicht der Sinn und die Intention der Revolutionsträger, die diesen Prozess in Tunesien und in Ägypten begonnen haben. Sie wollten eigentlich einen friedlichen Demokratisierungsprozess in der gesamten arabischen Welt herbeiführen.

Einheiten der Freien Syrischen Armee in Deraa; Foto: Reuters
Blutiger Wendepunkt: Der anfänglich friedliche Widerstand gegen das Assad-Regime in Syrien vom März 2011 hat sich längst in einen bewaffneten Aufstand mit vielen zivilen Opfern verwandelt. Und noch immer ist kein Ende der Gewalt abzusehen.

​​Sie forderten im Grunde die Prinzipien der Menschenrechte, der Freiheit und Gerechtigkeit. Und vor allem wollten sie Nepotismus und Korruption bekämpfen und dass die neuen Strukturen und Institutionen ein menschliches und kein blutiges Gesicht haben. Zwar ist der Prozess noch lange nicht abgeschlossen, doch besteht die Gefahr, dass sich der arabische Frühling als eine Götterdämmerung erweisen wird, weil die Bewegungen immer häufiger blutig niedergeschlagen werden.

Der berühmte algerische Islamwissenschaftler Mohammed Arkoun kritisiert die "dogmatische Geschlossenheit des Systems" der arabischen Gesellschaft. Auch sie schließen sich dem libanesischen Historiker Hisham Sharabi in seiner Kritik des neopatriarchalischen Systems an, in dem sie ein großes Übel sehen.

Turki: Das System des Neopatriarchats – das patriarchalisch ist, aber nach außen hin modern wirkt – hält an bestimmten fest verankerten Strukturen der Herrschaft fest und sträubt sich gegen die Veränderung politischer Machtverhältnisse. Deswegen bleiben diese neopatriarchalischen Strukturen, die dem Anschein nach modern, in Wirklichkeit aber nur modernistisch sind, eine Makulatur. Die Moderne erfordert mehr als das.

Die Moderne ist ein Projekt mit vielen Facetten und auch Veränderungen. Das geht von der Rechtsstaatlichkeit über Menschenrechte bis hin zu wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen, die offen sein sollten. Das ist beim Neopatriarchat als auch beim Patriarchat nicht der Fall.

Wie können diese Strukturen überwunden werden?

Turki: Drei Punkte betrachte ich als wesentlich. Zunächst müssen sich die ökonomischen Strukturen verbessern. Dann müssen Veränderungen im Sozialen vorangetrieben werden, z.B. die Emanzipation der Frau, aber grundlegender ist der soziale Umgang miteinander. Da nutzt es nichts nach außen ganz modern zu erscheinen, aber innerhalb der Familie die alten patriarchalischen Strukturen aufrecht zu erhalten, die auf keinem Gleichheitsprinzip aufbauen. Drittens brauchen wir politische Veränderungen, aber damit eins klar ist: Ich möchte keine Importartikel.

Algeriens Innenminister Daho Ould Kablia verkündet den abermaligen Wahlsieg Präsident Bouteflikas im Mai 2012; Foto: Reuters
Algerien seit Jahrzehnten im festen Griff der Generäle: "Das System des Neopatriarchats – das patriarchalisch ist, aber nach außen hin modern wirkt – hält an bestimmten fest verankerten Strukturen der Herrschaft fest und sträubt sich gegen die Veränderung politischer Machtverhältnisse", meint Turki.

​​Auch Demokratie ist kein Importartikel, sondern ein ständig fortwährender Prozess innerhalb der Gesellschaft selbst, der sich immer entwickelt, sich voranbringt und seinen Kurs korrigiert. Wir können also nicht nur westliche Modelle übernehmen, sondern wir müssen auch die Realität in den Ländern betrachten. Wir müssen fragen: welche sind hier die tragenden Elemente und wie können wir sie verändern, dass sie der Zeit angepasst werden. Wenn wir diese drei Bestandteile berücksichtigen: Das Ökonomische, das Soziale und das Politische, dann haben wir im Grunde das Projekt der Moderne als Prozess.

Oft war in den arabischen Ländern selbst zu hören, man habe die Revolution ohne Hilfe des Westens oder sogar trotz des Westens geschafft.

Turki: Ich habe eine Abneigung gegen diese Schwarz-Weiß-Malerei. In Sinne von: Im Westen ist alles da, da gibt es die Aufklärung, das Denken, da sind die Schulen und die Vordenker und anderswo haben sie nur zu folgen und sich zu unterwerfen, sich inspirieren zu lassen oder zu übernehmen und können nicht selbst kreativ an diesem Prozess teilnehmen. Ich halte das für eine falsche Vorstellung. Es gibt in der arabischen Welt, besonders seit den letzten 200 Jahren, immer wieder Denker und auch Ansätze für diesen Aufklärungsprozess.

Zum Beispiel stammt die Verfassung in Tunesien aus dem Jahr 1864, also noch bevor die Franzosen das Land okkupiert und kolonisiert haben. Das heißt, hier war man schon weit entwickelt bei den Forderungen nach Veränderungen der Sozialstrukturen. Auch Karthago hatte seine Verfassung, aber es geht nicht darum, nach der Quelle zu suchen, denn alles ist im Fluss.

Dass man etwas vom Westen übernimmt gehört genauso zu diesem Prozess wie, dass man ihn selber kreativ gestaltet. Wenn wir in einer offenen Gesellschaft leben, dann gibt es nicht: hier ist der Westen und dort ist der Osten. Das Wesentliche ist, dass wir gemeinsam arbeiten und nicht gegeneinander. Interkulturell und transkulturell – das sind die Elemente, die uns weiterbringen und nicht der Manichäismus, das Schwarz-Weiß-Denken oder das Gegensatzdenken. Letztendlich ist der Westen ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung, genauso wie das arabisch-islamische Kulturgut.

Sie vergleichen den arabischen Frühling, von dem Sie sagen, er habe die arabischen Länder vom Mittelalter ins dritte Millennium katapultiert, mit Kants These vom "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Hierbei räumen Sie den Frauen eine besondere Rolle ein. Sind es die Frauen, die die Aufklärung in die arabischen Länder gebracht haben, auf die der Westen so lange gewartet hat?

Turki: Erst einmal grundsätzlich: Dieser Prozess ist keiner, den nur Männer oder nur Frauen vorantreiben. Er wird von der Jugend getragen und die kennt keine geschlechtlichen Unterschiede. Wenn die Jugendlichen über Facebook und Twitter miteinander kommunizieren, dann kennen sie sich häufig nicht, aber sie haben gemeinsame Ziele.

Mohamed Saad al-Katatni und weitere Vertreter der Muslimbruderschaft im ägyptischen Parlament in Kairo; Foto: Reuters
Fragwürdiges Credo vom Islam als einzigen Lösungsweg: "Man kann das Volk nicht nur mit Parolen abspeisen, die sich alleine auf die kulturelle Identität beschränken. Wenn das Volk Hunger hat und die ökonomischen und sozialen Bedingungen nicht rechtzeitig verbessert werden, dann werden die Regierungen Opfer ihrer eigenen Ideologie und nicht umgekehrt", meint Turki.

​​Es sind also in erster Linie Menschen, das ist das Wesentliche. Wir dürfen hier nicht in eine feministische oder eine sexistische Haltung verfallen. Ich halte es für notwendig, dass man hier von einem menschheitstragenden Prozess spricht, der uns weiter voranbringt und zwar im Sinne einer Gesellschaft, in der alle gleichberechtigt sind und alle anerkannt werden und ihre Forderungen zur Geltung bringen, aber auch selbstverständlich der Kritik ausgesetzt sind, um dieses Projekt auch zu verbessern.

Dieses Projekt muss nicht westlich, nicht östlich sein. Es muss weltlich sein. Und das ist im Grunde genommen das Wichtigste im Sinne der Aufklärung. Die fängt ja, nebenbei bemerkt, auch nicht im 18. Jahrhundert an, sondern in der arabisch-islamischen Welt "avant la lettre", wie man sagt, also schon im elften Jahrhundert mit Ibn Sina und besonders Ibn Rushd.

Der Westen reagiert skeptisch auf die islamistischen Regierungen im Maghreb. Man weiß nicht richtig, wie man sie einordnen soll. Häufig war von der "arabischen CDU" oder einem Vergleich mit der türkischen AKP zu lesen. Doch Kritiker glauben, die Islamisten opfern die Bedürfnisse ihres Volkes grundsätzlich ihrer Ideologie.

Turki: Dieser Kritik stimme ich teilweise zu. Die Islamisten haben zum Beispiel kein eindeutiges politisches Programm bezüglich der Wirtschaftsstrukturen und der Zukunftsperspektiven der Länder. Man kann das Volk nicht nur mit Parolen abspeisen, die sich alleine auf die Identitätsfrage oder die kulturelle Identität reduzieren. Wenn das Volk Hunger hat und die ökonomischen und sozialen Bedingungen nicht rechtzeitig verbessert werden, dann werden die Regierungen vor allem Opfer ihrer eigenen Ideologie und nicht umgekehrt.

Das Volk wird für seine Rechte weiter kämpfen und diese durchsetzen. Glücklicherweise gibt es mittlerweile verschiedene Parteien und Fraktionen, die sagen: Jetzt müssen wir uns erst einmal um die grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung kümmern, genauso wie um die Aufhebung der Gegensätze zwischen Küste und Hinterland, zwischen Stadt und Land, zwischen denjenigen, die tatsächlich arbeiten und das Bruttosozialprodukt erwirtschaften, und denjenigen, die das nur für sich verbuchen. In Tunesien gibt es auch Intellektuelle, die diese Makulatur kritisieren und nicht akzeptieren und sie werden sich auch irgendwann organisieren. In dieser Hinsicht bin ich optimistisch – wenn auch nicht sehr.

Interview: Ceyda Nurtsch

© Qantara.de 2012

Professor Dr. Mohamed Turki wurde 1945 in der tunesischen Stadt Gabès geboren. Er studierte Philosophie, Romanistik und Soziologie an der Universität Münster in Westfalen. 1980 bis 2008 lehrte er Philosophie an verschiedenen Universitäten in Deutschland (Bremen, Gießen und Kassel) und Tunesien (Sfax und Tunis). Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Existenzphilosophie, speziell Sartres Existentialismus, Blochs Utopie und die arabisch-islamische Philosophie. Die Erschließung neuer Perspektiven für eine interkulturelle Philosophie zur Förderung des Dialogs zwischen den Kulturen.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de