"Silvester 2015 war ein Wendepunkt"

Seit der Silvesternacht von Köln 2015 haben Menschen aus Marokko kaum noch Chancen auf Asyl in Deutschland, weil Marokko dort als sogenanntes "sicheres Herkunftsland" betrachtet wird. Darüber hat sich Martina Sabra mit Hicham Aroud, marokkanischer Experte für Migration und Asyl, in Rabat unterhalten.

Von Martina Sabra

Seit der Silvesternacht von Köln 2015 ist ein Jahr vergangen. Wie wurden die Nachrichten über die massive sexualisierte Gewalt gegen Frauen damals in Marokko aufgenommen?

Hicham Aroud: Wir waren sehr schockiert. Niemand hat das Recht, Frauen sexuell zu belästigen, nirgendwo. Dass Nordafrikaner beteiligt waren, darf uns nicht zu der Annahme verleiten, dass solches Verhalten in Marokko aus kulturellen Gründen akzeptiert wird. Männer, die Frauen sexuell belästigen, gibt es überall, unabhängig von der Nationalität. Die marokkanische Öffentlichkeit und die marokkanisch-deutsche Community in Deutschland haben das Verhalten der Täter scharf kritisiert. Und viele, die in der Silvesternacht 2015 in Köln und anderen deutschen Städten auf der Straße waren und die die sexualisierten Gewaltattacken mitbekommen haben, haben klar gesagt: Wir prangern das an, und wir wollen, dass Polizei und Justiz die Schuldigen zur Verantwortung ziehen. Niemand hat das einfach hingenommen.

Bis heute ist nicht ganz klar, ob und in welchem Ausmaß Flüchtlinge an der sexualisierten Gewalt in Köln beteiligt waren. Als erwiesen gilt, dass einige der Täter aus Algerien und Marokko stammten. Mehrere Täter wurden vor Gericht gestellt. Sie beobachten und analysieren die Ereignisse im Kontext von migrationspolitischen Diskursen in Europa und Nordafrika. Wie sehen Sie die langfristige Wirkung der Silvesterereignisse von Köln?

Aroud: Die Ereignisse von Köln waren ein Wendepunkt. Seither haben sich die Diskurse in Deutschland und der EU radikal gewandelt. Die feindselige Stimmung betraf nicht nur die Marokkaner, sondern nahezu alle Flüchtlinge in Deutschland. Indirekt betraf sie auch einige Syrer, die über Algerien nach Marokko gekommen waren und die von dort aus über die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla nach Europa weiterreisen wollten. Bis 2015 waren die Aufnahmezentren in Ceuta oder Melilla brechend voll. 2016 verzeichneten sie zum ersten Mal sinkende Zahlen. Das lag nicht nur daran, dass immer weniger syrische Flüchtlinge über Ceuta und Melilla kamen: Einige Geflohene aus Syrien entschlossen sich sogar, von den spanischen Exklaven nach Marokko zurückzukehren. Für die marokkanischen Behörden kam das völlig unerwartet, sie waren in keiner Weise darauf vorbereitet, syrische Geflüchtete von Spanien aus nach Marokko zurückzulassen. Aus meiner Sicht gehört das indirekt auch zu den Folgen der Ereignisse von Köln.

Hicham Aroud, Experte für Migration und Entwicklung in Rabat, Marokko; Foto: Martina Sabra
"Die EU wollte, dass Marokko alle Migranten zurücknehmen sollte, die von Marokko aus in die EU weiterreisen. Das ist unmöglich. Wir können nicht die Grenzbeamten Europas sein", meint Hicham Aroud, Experte für Migration und Entwicklung in Rabat, Marokko.

In Deutschland ist die Kölner Silvesternacht 2015 am Jahrestag in den Medien wieder sehr präsent. Wie ist das in Marokko?

Aroud: Anfang 2015 haben sich die marokkanischen Medien und die zivile Gesellschaft einige Wochen lang mit dem Thema befasst. Aber im Großen und Ganzen haben die Ereignisse der Kölner Silvesternacht 2015 in unseren Medien keine so große Rolle gespielt. Doch für die Migrationspolitik hat sich einiges geändert, das spüren wir schon.

Was sind die wichtigsten Veränderungen aus Ihrer Sicht?

Aroud: Die Ereignisse wurden als Argument genutzt, um Einwanderung und Fluchtmöglichkeiten weiter zu begrenzen. Seit den Ereignissen von Köln haben Menschen aus Marokko kaum noch Chancen auf Asyl in Deutschland, weil Marokko dort als sogenanntes "sicheres Herkunftsland" betrachtet wird. Für Marokkaner ist der Asylstatus in Deutschland damit kaum noch erreichbar. Viele tausend haben daraus Konsequenzen gezogen und sind freiwillig zurückgekehrt. Wir haben darüber zwar keine offiziellen Statistiken, jedoch Schätzungen, die auf Erfahrungsberichten basieren. Insgesamt haben wir migrationspolitisch den Rückwärtsgang eingelegt – wir beobachten heute mehr Repression, mehr Mauern, mehr Kontrollen als je zuvor. Die Zusammenarbeit zwischen Marokko und der EU-Agentur „Frontex“ wurde verstärkt, das Budget von "Frontex" ist noch einmal enorm gestiegen.

Im Rahmen der sogenannten "Mobilitätspartnerschaft" mit der EU von 2013 sollte Marokko seine Asyl- und Migrationspolitik nach europäischen Vorgaben neu gestalten. Unter anderem sollten Abschiebungen nach Marokko erleichtert werden. Marokko wurde angewiesen, auch Flüchtlinge aus afrikanischen Drittländern zurücknehmen. Im Gegenzug sollten bestimmte marokkanische Bevölkerungsgruppen erleichtert Visa bekommen. Wie steht es mit der Umsetzung?

Aroud: Im Jahr 2014 gab es erstmals Bewegung: Nach der Thronrede des Königs und seiner Forderung nach einer modernen Migrationspolitik wurden in Marokko über 20.000 Transitflüchtlinge legalisiert, die meisten aus Subsahara-Afrika. Außerdem wurden diverse Gesetze in Angriff genommen. Mittlerweile gibt es bei uns ein Gesetz gegen Menschenhandel. Doch viele Verhandlungen liegen auf Eis, unter anderem wegen Streitigkeiten im Zusammenhang mit den Landwirtschafts- und Fischereiabkommen und der Westsahara. Auch das Asylgesetz ist noch immer nicht beschlossen.

Protest-Transparent von Flüchtlingen in Hamburg; Foto: picture-alliance/dpa
"Sichere Staaten" in Nordafrika nicht sicher: Das Bundesflüchtlingsamt schätzt die politische Lage in den Maghreb-Staaten nach einem Medienbericht weit unsicherer ein als die Bundesregierung, die diese nordafrikanischen Länder zu sicheren Herkunftsstaaten erklären möchte. Wer aus einem Staat mit solchem Status kommt, erhält in Deutschland in der Regel kein Asyl.

Deutschland hat 2016 ein Rücknahmeabkommen mit Marokko ausgehandelt. Aktuell sollen sich in Deutschland rund 3.000 Menschen aus Marokko aufhalten, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die ausreisen müssen. Nur wenige Dutzend sind bislang wirklich zurückgekehrt.

Aroud: Marokko hat zugesagt, bei der Rückführung seiner eigenen Bürger zu kooperieren und die bürokratischen Prozesse zu beschleunigen. Aber nur, was seine eigenen Bürger betrifft. Das ist ein wichtiges Detail, denn die EU wollte, dass Marokko alle Migranten zurücknehmen sollte, die von Marokko aus in die EU weiterreisen. Das ist unmöglich. Wenn wir dem zustimmen würden, bekämen wir in Marokko große soziale Probleme, und überdies auch Schwierigkeiten mit den Herkunftsländern dieser Flüchtlinge. Wir können nicht die Grenzbeamten Europas sein.

Die Mobilitätspartnerschaft von 2013 sah Visaerleichterungen für Marokkaner vor, die in die EU einreisen wollten. Spricht das nicht für das Abkommen?

Aroud: Das stimmt, aber faktisch würde nur ein sehr kleiner Teil der marokkanischen Bevölkerung profitieren, eine Elite. Das Gros der Bevölkerung würde von den bislang vorgesehenen Visaerleichterungen keinerlei Vorteile haben. Ich glaube nicht mehr, dass die Mobilitätspartnerschaft kommen wird, jedenfalls nicht so wie die EU sie ursprünglich geplant hat.

Werden die Abwehrmaßnahmen der EU und Deutschlands etwas an den tatsächlichen Migrationsbewegungen zwischen Marokko und Europa ändern?

Aroud: Nein, ich denke nicht. Nur die Preise für illegale Auswanderung werden weiter steigen. Die einzigen, die von der verschärften Migrationspolitik profitieren, sind letztlich die Menschenhändler.

Das Gespräch führte Martina Sabra.

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