Interview mit dem Islamwissenschaftler Christian Troll zur Krise des Islam

Der Jesuit und Islamwissenschaftler Christian Troll gehört zu den renommiertesten Experten im katholisch-islamischen Dialog. Er hat viele Jahre in orientalischen Ländern gelehrt und war Professor an der Universität Birmingham sowie am Päpstlichen Orientalischen Institut in Rom. Darüber hinaus wirkte er im Päpstlichen Rat für den Interreligiösen Dialog und beriet die Deutsche Bischofskonferenz. Troll ist emeritierter Honorarprofessor der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Im Interview spricht Troll, der am 25. Dezember seinen 80. Geburtstag feiert, über das Warten auf islamische Reformen und das Ringen um Toleranz.

Pater Troll, mehr als ein halbes Jahrhundert lang studieren und beobachten Sie den Islam. Welche Entwicklung hat er in dieser Zeit durchlaufen?

Troll: Zunächst mal hat die Zahl der Muslime durch das Bevölkerungswachstum enorm zugenommen, auf über eine Milliarde. Davon leben heute viele in wirtschaftlicher und politischer Perspektivlosigkeit. Weltweit mehr als ein Drittel der Muslime lebt innerhalb von Staaten mit nichtmuslimischer Mehrheit - allein in Europa um die 16 Millionen Muslime. Gleichzeitig haben etliche orientalische Gesellschaften eine starke Reislamisierung erlebt, die Orientierung an westlichen Gesellschaftsmodellen hat nachgelassen. Die islamische Revolution im Iran 1979 war dafür ein Schlüsseldatum. Obendrein sind aber auch die innerislamischen Spannungen heftiger geworden. Sunniten und Schiiten liefern sich in Teilen des Nahen Ostens einen regelrechten Religionskrieg. Daneben ist der islamistische Terror und Extremismus zu einer Plage der Zeit geworden.

Von einer "Krise des Islam" ist heute oft die Rede.

Troll: Der Begriff erscheint mir nicht verkehrt, auch wenn die Situation von Land zu Land verschieden ist. Das Grundproblem ist aus meiner Sicht, dass die Sphären der politischen Macht und der Religion im Islam nicht strikt getrennt sind. Das Modell von Medina gilt mehr oder weniger als Vorbild, also das erste islamische Staatsgebilde, unter Mohammed als Propheten und Staatsmann. Auf diesem Modell aber lässt sich keine moderne, tolerante Gesellschaft bauen.

Leider sind nach islamischer Lesart im Zweifelsfall die früher geoffenbarten, mekkanischen Koransuren im Licht der späteren medinensischen Suren zu interpretieren, die teilweise zur Gewalt gegen Andersgläubige aufrufen. Die mekkanischen Suren rufen auf zum Glauben an den reinen Monotheismus und zur Praxis sozialer Gerechtigkeit, während es in Medina und den dort geoffenbarten Suren um den Aufbau des Islam als politischer Gemeinschaft geht, die den Auftrag hat, sich nach dem von Gott geoffenbarten Recht zu organisieren sowie diplomatisch und kriegerisch zu behaupten.

Reformer sagen deshalb, dass heute, da der Islam, global gesehen, eine Religion unter anderen ist, der Koran, und damit der Islam überhaupt, im Licht der mekkanischen Verkündigung des Propheten verstanden und gelebt werden sollte.

Gibt es denn da unter Gelehrten ernsthafte Ansätze?

Troll: Ja, nicht zuletzt im Bereich des schiitischen Islam. Allerdings sind sie noch äußerst rar. Kein Wunder, denn wer als muslimischer Gelehrter Teile des Koran praktisch relativiert, der lebt gefährlich. Der letzte international bekannte Theologe, der das versucht hat, war der Sudanese Mahmud Mohammad Taha, der im Jahr 1985, im Alter von 76 Jahren, des Unglaubens bezichtigt und hingerichtet wurde. Wichtig wäre, dass an den großen, einflussreichen islamischen Lehrstätten des Rechts und der Theologie wie der Al-Azhar-Universität in Kairo ein Diskurs über ein reformiertes Koranverständnis beginnt und dass sich das islamische Denken durchringt zu Toleranz, zur Anerkennung von Vielfalt, zur Trennung von Politik und Religion.

Manche Kritiker sagen, ein strenggläubiges Islamverständnis lasse sich im Grunde vom Islamismus nicht unterscheiden. Islamismus sei nur ein Konstrukt der politischen Korrektheit. Was meinen Sie?

Troll: Das ist zu verkürzt. Es gibt viele konservative Muslime, die sich gut mit säkularen Staatsformen und der Demokratie abfinden können, solange sie ihre Religion ungestört praktizieren dürfen. Islamisten dagegen sehen die Muslime auch heute in der Pflicht, den Islam als religiös-politisches Gebilde zu verwirklichen. Für sie reicht es nicht, dass der Staat ihren Glauben nicht antastet, sondern er hat die Pflicht, die Scharia durchzusetzen, notfalls auch mit militärischen Mitteln. Wahrer Islam ist für sie allein herrschender Islam. Mit dieser Einstellung werden sie ihre Religion aber nur von einem Konflikt in den nächsten führen.

Wahrer Islam sollte sich vielmehr einbringen in die moderne Welt, mitgestalten, helfen, ihre Probleme zu lösen und Krieg und Not zu beseitigen - im Namen Gottes. Zum Glück sehen viele Muslime das genau so. Es gibt bislang jedoch keine breite, durchdachte theologische Richtung, die diese Sicht des Islam wirkkräftig in den globalen Diskurs einbringt.

Der Umgang mit dem Islam wird wegen der Migration zu einer Schlüsselfrage für Deutschland und Europa. Sehen Sie da Gefahren auf uns zukommen?

Troll: Das hängt davon ab, ob die von Antike, Christentum und Aufklärung geprägten Gesellschaften klug und in ihrer eigenen Identität gefestigt den Muslimen und den Islamisten zu begegnen bereit sind. An die Menschen, die zu uns nach Europa kommen, ob sie nun Muslime sind oder nicht, gilt es gewisse Forderungen zu stellen. Auf den Menschenrechten der UN basierender Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Glaubensfreiheit, Gleichberechtigung von Männern und Frauen etc. stehen nicht zur Disposition.

Es hat in dieser Hinsicht bei uns in den vergangenen Jahrzehnten durchgehend am nötigen Selbstbewusstsein und Gestaltungswillen gefehlt - mit den bekannten Problemen bei der Integration. Und auch heute werden diese Forderungen an Zuwanderer noch zu halbherzig gestellt. Auch von den Kirchen. Wenn wir Christen da nicht bestimmter auftreten, auch im Umgang mit den konservativen Islamverbänden, gefährden auch wir den gesellschaftlichen Frieden. (KNA)