Der Verlust der moralischen Autorität

Nach Ansicht von Cengiz Aktar, Professor für politische Wissenschaften an der Bahçeşehir-Universität in Istanbul, richten sich die Proteste in der Türkei nicht gegen das politische System, sondern gegen den autoritären Machtanspruch des Premiers. Mit ihm sprach Ada Pagliarulo

Von Ada Pagliarulo

Reflektieren die anhaltenden Unruhen in der Türkei die Spaltung zwischen säkularen und islamischen Kräften? Oder richten sich die Proteste in erster Linie gegen Erdoğans politische Machtambitionen und die Defizite der Demokratie in der Türkei?

Cengiz Aktar: Ich glaube, Letzteres trifft es eher. Die Bilgi-Universität in Istanbul führte kürzlich eine Umfrage unter den Protestierenden durch. Das Ergebnis: 92 Prozent der Slogans richten sich direkt gegen den Politiker Erdoğan. Das ist ein sehr hoher Wert. Auffällig ist auch, dass sich die Parolen nicht gegen die Regierung insgesamt oder gar gegen die AKP wenden.

Wenn Sie mich nach einer möglichen Spaltung des Landes zwischen einem säkularen und einem islamischen Lager fragen, möchte ich daran erinnern, dass sehr viele Demonstranten muslimischen Glaubens sind. Zum Beispiel gibt es eine Gruppe, die sich "anti-kapitalistische Muslime" nennt. Der 6. Juni war ein islamischer Feiertag und deshalb beteten die Muslime unter den Demonstranten, während andere Protestierende aus Respekt ihnen gegenüber an diesem Tag darauf verzichteten, Alkohol zu trinken.

Cengiz Aktar; Foto: © IBO/SIPA PRESS
Cengiz Aktar: "Die Türken verlangen nicht ein völlig neues demokratisches System, sondern nur mehr</em> Demokratie als sie jetzt haben. Sie wollen das wiedererlangen, was sie in den letzten vier oder fünf Jahren verloren haben"

​​Insgesamt lassen sich diese Proteste deshalb keineswegs als säkulare Reaktion auf eine vorgebliche Islamisierung des Landes interpretieren. Sicher gibt es viele Leute unter den Demonstranten, die sich gegen Eingriffe in ihre Privatsphäre wenden, doch geht es dabei eben in erster Linie um die Ablehnung dieser Einmischung an sich und nicht um den damit oftmals verbundenen Vorwurf einer Islamisierungs-Agenda. Das Gesetz über das Verkaufsverbot für alkoholische Getränke sorgt deshalb für so viel Wirbel, weil die Menschen sich fragen, warum so viel über die Gefahr von Alkoholismus gesprochen wird, obwohl sie doch eigentlich gar nicht existiert.

Was beabsichtigt der Ministerpräsident denn mit den neuen Restriktionen?

Aktar: In Wahrheit geht es Erdoğan um "social engineering". Er hat eine bestimmte Vorstellung davon, wie sich junge Türken verhalten sollten. Er möchte, dass sie fügsam sind und auf Alkohol verzichten. Dabei trinken junge Türken – wie die übrigen 80 Prozent der Gesamtbevölkerung – grundsätzlich keinen Alkohol. Es sind also künstlich geschaffene Probleme, genauso wie die daraus abgeleiteten Vorkehrungen. Mit der Realität der Gesellschaft oder des Landes haben sie nichts zu tun.

Erdoğan hat eine sehr autoritäre Methode entwickelt, Entscheidungen zu treffen. Ausgelöst wurden diese Proteste u.a. von der Entscheidung, einen der letzten noch verbliebenen Parks in Istanbul in die Nachbildung einer osmanischen Kaserne umzuwandeln, was jedoch nur ein Vorwand ist, denn in Wirklichkeit geht es nur um ein weiteres Einkaufszentrum. Und diese Entscheidung wurde keineswegs von den örtlichen Behörden getroffen, sondern vom Premier persönlich.

Er lässt sich von niemandem beraten und gerät in Wut, wenn ihn mal jemand daran erinnert, dass es auch noch so etwas wie Bürger gibt, oder wie im Fall des Taksim-Platzes, gleich eine ganze Bürgerbewegung, die vielleicht fordern, dass die Bäume dort nicht gefällt werden, da sie gebraucht werden, damit die Menschen weiterhin atmen können. Diese Bürger aber nennt Erdoğan "Penner" und "Hooligans". Ich denke, dieser autoritäre und arrogante Politikstil ist einer der Hauptgründe für die Verbitterung, die wir momentan sehen können.

Sie sprachen von "anti-kapitalistischen Muslimen", die an den Protesten teilnehmen. Wie setzt sich diese äußerst heterogene Protestbewegung zusammen?

Aktar: Die "Anti-kapitalistischen Muslime" bilden nur eine kleine Gruppe, aber es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass zu den Demonstranten durchaus Menschen zählen, die Erdoğans Partei an die Macht gewählt haben. Es gibt ein weit verbreitetes Gefühl der Unzufriedenheit. Unter den jungen Säkularisten auf der Straße sind viele Frauen, die ihren Freundinnen zugestehen, auf dem Kopf zu tragen, was sie immer sie wollen.

Aktivist vor Erdogan-Grafitti in Istanbul; Foto: Gaia Anderson
Widerstand gegen politische Entmündigung und autoritäre Herrschaft: "Es handelt sich hier um eine sehr junge, urbane Bewegung – nicht unbedingt säkular, aber sehr modern, nicht parteigebunden und sehr liberal", meint Cengiz Aktar

​​Es handelt sich hier um eine sehr junge, urbane Bewegung – nicht unbedingt säkular, aber sehr modern, nicht parteigebunden und sehr liberal. Sehr verschiedene Kreise der Bevölkerung haben ihre Kräfte gebündelt und so bleiben paradoxe Aspekte nicht aus. Zum Beispiel haben sich auch die Anhänger dreier verfeindeter Fußballvereine den Protesten angeschlossen, darunter Gläubige ebenso wie Atheisten. Es finden sich Vertreter der Rechten ebenso wie der extremen Rechten, auch der extremen Linken. Es ist eine äußerst kosmopolitische Bewegung und die üblichen Adjektive reichen nicht aus, um sie abschließend einzuordnen.

Erdoğan hat drei aufeinanderfolgende Wahlen gewonnen und einige glauben, dass dies auch das Ergebnis einer schwachen Opposition ist. Besitzt denn die kemalistische, von Kılıçdaroğlu geführte CHP, die den Ministerpräsidenten scharf kritisiert, überhaupt demokratische Glaubwürdigkeit?

Aktar: Nein. Von der CHP hört man auch nie etwas. Sie beschränkt sich darauf, auf Erdoğans Fehler zu warten. Aber eine demokratische Alternative sind die Kemalisten nicht.

Warum nicht?

Aktar: Weil es niemanden interessiert, was sie sagen. Das ist eine Partei, die hinsichtlich der Demokratie in der Türkei sogar noch hinter der AKP rangiert. Die CHP ist keine Reformpartei. Schließlich sollte nicht vergessen werden, dass Erdoğans Partei tiefgreifende Reformen umgesetzt hat, vor allem zu Beginn seiner ersten Amtszeit. Er steht für die türkische Europapolitik. Bis 2005 war die AKP zu außergewöhnlichen Leistungen fähig: Sie öffnete die öffentliche und politische Arena und verstärkte das demokratische Potenzial des Landes, indem mit alten Tabus gebrochen wurde.

Paradoxerweise haben die Demonstranten von den Demokratisierungstendenzen und Reformen der Vergangenheit profitiert. Erst seit 2007/2008 nahm der Regierungsstil Erdoğans immer autoritärere Züge an. Er selbst agiert derart selbstgerecht, sodass er sich nicht nur als "Vater der Nation" fühlt, sondern auch noch als Führer der ganzen Region. Gemessen an seinen intellektuellen wie politischen, vor allem aber an seinen demokratischen Fähigkeiten, muss Erdoğan als überambitioniert bezeichnet werden.

Wird das türkische Modell, über das in den vergangenen Jahren so ausgiebig diskutiert wurde, diese Proteste letztlich unbeschadet überstehen oder wird es nachhaltig kompromittiert?

Aktar: Instinktiv möchte man sagen, dass es nicht überleben wird, da das Land doch nun große Unruhen erlebt und auch die Finanzmärkte sehr negativ reagieren auf die Halsstarrigkeit des Premiers, der sich mit der Gesellschaft, den Menschen und seinem ganzen Land anlegt. Viele Experten meinen, dass das türkische Modell am Ende sei, aber ich würde "ja und nein" sagen, weil ich glaube, dass die türkische Gesellschaft so vital ist, dass dieses Modell noch nicht ausgedient hat.

Proteste gegen Ministerpräsident Erdogan am Taksim-Platz in Istanbul; Foto: dpa/picture-alliance
"Taksim ist überall!" - Seit über vier Wochen kommt es in der Türkei zu Protesten gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die sich an Plänen entzündet haben, den Gezi-Park zu bebauen.

​​Die Türken verlangen ja nicht ein völlig neues demokratisches System, sondern nur mehr Demokratie als sie jetzt haben. Sie wollen das wiedererlangen, was sie in den letzten vier oder fünf Jahren verloren haben. Sie wollen die Demokratie konsolidieren, die sie bereits erlangt haben, wohingegen die arabische Welt versucht, ihre Diktatoren loszuwerden.

Die Türkei bleibt gewiss ein Modell, zumindest eine Quelle der politischen Inspiration. Nicht aber mit diesem Premier, der einen Großteil seines Charismas verloren hat und ganz sicher auch die moralische Autorität, die er gegenüber seinen politischen Freunden in der Region meinte zu besitzen. Nun scheint er mit seinem Latein am Ende zu sein, schaut man sich an, was im Land passiert und denkt man an seine bekannte Unfähigkeit, Krisen zu meistern.

Welche von der Erdoğan-Regierung erlassenen Gesetze stellen Ihrer Ansicht nach eine wahre Bedrohung für Demokratie und Freiheit in der Türkei dar? 

Aktar: Politische Beobachter der Türkei haben immer gesagt, dass man nicht von einer Islamisierung sprechen kann, wenn das Land, um das es geht, bereits muslimisch ist. Auch um eine "Re-Islamisierung" kann es nicht gehen. Es handelt sich um nichts anderes als um einen ausgeprägten Autoritarismus – und das ist das eigentliche Problem der Türkei.

Es gibt jedoch andere Politiker als Erdoğan, die führende Rollen einnehmen könnten und die sich langsam aus der Deckung wagen, wie etwa Präsident Gül, der von Erdoğan in den goldenen Käfig des Präsidentenamts gesperrt wurde.

Ist Gül wirklich ein so moderater Politiker?

Aktar: Ja, definitiv. Und in jedem Fall ist er ein Demokrat. Man muss daran erinnern, dass die Türkei zurzeit eine recht schwierige Phase durchlebt. Mit den Kurden wird über einen Friedensvertrag verhandelt und das verlangt Taktgefühl, Vorstellungskraft und harte Arbeit. Die Türkei hat keine Erfahrungen damit, Konflikte zu lösen und weiß nicht, was alles dazugehört, wenn im Anschluss an eine Krise wieder Frieden und Vertrauen aufgebaut werden müssen. Dies alles müssen wir erst lernen und es ist vollkommen klar, dass das nicht mit Erdoğan gehen wird.

Das Interview führte Ada Pagliarulo

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

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