''Der ägyptische Präsident sollte mehr auf das Volk hören''

Asmaa Mahfouz, eine der bekanntesten jungen Aktivistinnen des Aufstands gegen das Mubarak-Regime, kritisiert im Interview mit Nina zu Fürstenberg die demokratischen Defizite sowie die mangelnde Transparenz der politischen Eliten unter der neuen Regierung Mursi.

Von Nina zu Fürstenberg

Sie zählten mit Ihrem Engagement im Bereich der sozialen Medien zu den Hauptprotagonistinnen beim Aufstand gegen das Mubarak-Regime. Sind Sie mit der gegenwärtigen politischen Situation in Ägypten zufrieden?

Asmaa Mahfouz: Nicht wirklich. Wir müssen uns jetzt vor allem auf die Ausarbeitung einer neuen Verfassung konzentrieren – einer Verfassung, die alle Ägypter verteidigt und schützt. Wir müssen so viele Menschen wie möglich dazu bringen, sich mit der Verfassung auseinanderzusetzen und so die Muslimbruderschaft dazu veranlassen, den richtigen Weg einzuschlagen.

Sind Sie und andere Aktivisten vom Tahrir-Platz derzeit in einer politischen Gruppe organisiert?

Mahfouz: Nein, aber wir versuchen uns zu reorganisieren. Es ist schwierig, denn viele hassen die Muslimbruderschaft, während andere, wie ich, ihnen kritisch gegenüberstehen, sie jedoch konstruktiv beeinflussen wollen.

Gibt es nicht mehrere Strömungen und Anschauungen innerhalb Ägyptens Muslimbruderschaft?

Mahfouz: Wenn man mit einzelnen Mitgliedern spricht, merkt man, dass sie zwar gute Vorsätze haben, jedoch keine Stimme besitzen. Sie können ihre Absichten nicht verwirklichen, denn die tatsächlichen Führer der Muslimbruderschaft verfolgen letztlich vor allem ihre eigenen Interessen. Darum haben sich einige Mitglieder dazu entschlossen, die Muslimbruderschaft zu verlassen oder sich in ihr neu zu gruppieren, um ihre eigenen politischen Ideen zu verwirklichen. Wenn ich also die Muslimbruderschaft kritisiere, so spreche ich damit nicht jedes einzelne Mitglied an, sondern vor allem ihre Führer.

Was halten Sie in diesem Zusammenhang von Präsident Mohammed Mursi?

Mahfouz: Ich bin ihm zwei Mal begegnet. Er ist eine wichtige Persönlichkeit, als Individuum aber machtlos. Er steht unter dem Einfluss der Muslimbruderschaft. Ich bete für ihn, wie jeder für ihn beten sollte, denn er ist schließlich unser Präsident. Und ich kooperiere mit seinem Team: Wir lassen die Regierung wissen, was auf den Straßen vor sich geht, geben Vorschläge und bringen Ideen ein. Und wir helfen, die Verbindung zwischen Volk und Regierung aufrecht zu erhalten.

Anhänger Mohammed Mursis in Kairo; Foto: Reuters
Asmaa Mahfouz: "Zwar ist Mohammed Mursi, im Gegensatz zu Mubarak, ein gewählter Präsident... Doch momentan werden die Eliten gegenüber den normalen Bürgern bevorteilt. Mursi sollte daher mehr auf das Volk hören."

​​Mursi ist, im Gegensatz zu Mubarak, ein gewählter Präsident. Wir befinden uns daher auf dem richtigen Weg. Was wir allerdings stets tun sollten ist, ihn und die Regierung zu den richtigen Entscheidungen zu bewegen.

Was sind denn Ihrer Meinung nach die wichtigsten Schritte, die Sie beeinflussen wollen?

Mahfouz: Erstens muss zunächst die Verfassung geändert werden, denn sie übervorteilt die Muslimbruderschaft gegenüber anderen politischen Gruppen, denen man auch eine Chance geben muss. Zweitens muss Mursi überzeugt werden, dass die Regierung nicht nur für die Interessen der Muslimbrüder, sondern die aller Ägypter eintreten muss. Drittens muss soziale Gerechtigkeit herrschen – nicht nur für einige Gesellschaftsschichten, sondern für die gesamte Bevölkerung. Momentan werden die Eliten gegenüber den normalen Bürgern bevorteilt. Der ägyptische Präsident Mursi sollte daher mehr auf das Volk hören.

Eröffnet das Ende der Ära Mubarak und die Wahl Mursis jungen Menschen in Ägypten nun mehr Perspektiven für einen sozialen und gesellschaftlichen Aufstieg?

Mahfouz: Ja, aber hätte der Präsident das entsprechende Regierungsziel in seinem Programm verankert, könnte er gewiss noch mehr Arbeitsplätze im Land schaffen. Ich denke, dass in Ägypten zwar genug Gelder vorhanden sind, diese aber nicht richtig bzw. gerecht verteilt werden. Es gibt keine Transparenz, wir fühlen uns wie in einer "Black Box".

Gesetzt der Fall, man möchte als junger Mensch eine eigene Firma oder ein kleines Geschäft gründen, würde er oder sie dafür auch problemlos die finanziellen Mittel bekommen?

Mahfouz: Nein, die einzige Möglichkeit an Geld zu kommen ist, jemanden in der Regierung zu kennen. Das Problem liegt nicht in der Wirtschaftskrise, sondern in politischen Gunstbezeugungen. Nehmen wir das Thema Mindestlöhne: Mursi würde sagen, dass es ihm an Geld fehlt um jeden angemessen zu bezahlen. Und während er das sagt, stopfen sich seine Regierungsmitglieder so viel davon in die Tasche, wie sie nur können. Mursi könnte daher die hohen Regierungsgehälter kürzen und eine gerechtere Verteilung des Geldes veranlassen.

Ist die Veränderung, auf die Sie und viele Aktivisten vom Tahrir-Platz gehofft hatten, in Wirklichkeit also doch gar keine Veränderung?

Mahfouz: Nun, wir brauchen mehr Zeit. Wir haben jetzt den ersten Stein angestoßen, aber wir müssen geschickter sein und andere Techniken anwenden, um den Wandel beizubehalten.

Wie denken die Menschen in Kairo über die Vorkommnisse im Bezug auf den Mohammed-Schmähfilm? Worüber sprachen die Menschen während der Proteste vor der US-Botschaft?

Mahfouz: Wir hatten gehört, dass in Amerika ein Film gezeigt würde, der den Propheten Mohammed beleidigte. Das verärgerte uns sehr, mich eingeschlossen. Als ich die amerikanischen Medien durchsuchte, fand ich diesen Film schließlich: es war ein schlechter Trailer ohne Geschmack und Inhalt. Ich versuchte herauszufinden, wo der Film in den USA gezeigt würde, fand aber keine Informationen hierüber. Jemand hatte eine arabische Übersetzung erstellt und im Internet verbreitet.

Demonstration gegen Hosni Mubarak auf dem Tahrir-Platz; Foto: AP
Ikone der ägyptischen Revolution: Als Mitgründerin der Bewegung "April 6th Movement" und ihren Facebook-Aufrufen zum Widerstand gegen das Mubarak-Regime, hatte die Aktivistin Asmaa Mahfouz die Proteste vom Januar 2011 entscheidend geprägt.

​​Ich beschloss, diese gezielte Provokation zu ignorieren. Um den Propheten Mohammed zu verteidigen, müssen wir denken und handeln wie er. Ich denke nicht, dass der Protest wütender Muslime eine gute Idee war, aber sie hatten das Recht zu diesem Protest. Aus Neugier ging ich zur amerikanischen Botschaft um zu sehen, was dort vor sich ging.

Durften die Menschen denn protestieren oder wurde es ihnen untersagt und es kam in der Folge zu Zusammenstößen mit der Polizei?

Mahfouz: Seit ich denken kann steht die amerikanische Botschaft unter starkem Polizeischutz. Warum? Nun, es ist bekannt, dass Amerika in Ägypten, wie auch in vielen anderen Ländern, wegen seiner Politik gehasst wird. Vor allem für das, was in Afghanistan, Irak und Iran geschehen ist und noch immer geschieht.

Als wir am Tag der Proteste zur Botschaft kamen, stand dort jedoch kein einziger Polizist. Viele Extremisten und Jugendliche protestierten und riefen Parolen. Sie forderten, dass die Amerikaner den Islam und unseren Propheten akzeptieren sollten. Einige schwenkten die schwarze Fahne des "alten Islam", die wieder bekannt geworden ist, seit die Dschihadisten sie benutzen. Manche begannen illegalerweise Graffitis an die Wände der Botschaft zu schmieren, andere kletterten auf die Mauern der Botschaft und verbrannten die amerikanische Fahne.

Trotz all dem gab es kein Polizeiaufgebot, was sehr seltsam war. Das änderte sich jedoch am darauffolgenden Tag, als ein großes Polizeiaufgebot jeden Anwesenden gewaltsam angriff, anstatt uns Zivilisten zu schützen. Die Anzahl der Protestierenden wuchs und das Ganze endete in einem Straßenkampf zwischen Polizisten und Demonstranten.

Inwiefern unterschieden sich diese Proteste von denen auf dem Tahrir-Platz?

Mahfouz: Es handelte sich in beiden Fällen um vollkommen verschiedene Menschen. Ich sprach mit vielen von den Demonstranten vor der amerikanischen Botschaft, und es war schwer, gleiche Standpunkte herauszufiltern. Viele von ihnen kamen zum Beispiel, weil sie sich wegen früherer Polizeiübergriffe an den Sicherheitskräften rächen wollten, andere gingen zu den Demonstrationen, weil sie Präsident Mursi und Ägyptens Beziehung zu Amerika verachten. Manche taten ihre Wut kund, weil sie Amerika für den politischen Aufruhr in Nahen Osten verantwortlich machten. Und wiederum andere ließen sich einfach von dem Tumult mitreißen. Sie alle kamen an diesem Ort zusammen. Und die Medien stellten den Aufruhr als Krieg zwischen den USA und dem Islam dar, was nicht der Realität entsprach.

Wie war die Stimmung auf Twitter und Facebook?

Mahfouz: Viele Ägypter reagierten falsch auf die Nachricht des Todes des amerikanischen Botschafters in Libyen. Sie freuten sich und schrieben, sie "hätten Rache genommen". Ich erinnerte sie an das Verbot unseres Propheten, Unbewaffnete anzugreifen, und daran, dass die Amerikaner in der Botschaft völlig unbewaffnet waren.

Demonstranten in Kairo demonstrieren vor der US-Botschaft; Foto: AP/dapd
Zorn und Empörung aus unterschiedlichen Motiven: "Manche taten ihre Wut kund, weil sie Amerika für den politischen Aufruhr in Nahen Osten verantwortlich machten, andere wiederum ließen sich einfach von dem Tumult mitreißen", meint Mahfouz.

​​Die Meinungen auf Twitter reichten von Rachegedanken bis hin zu Wut über die Geschehnisse in Afghanistan und Irak. Der Islam war nie das Thema, sondern nur die Taten der Amerikaner in anderen Ländern, die so viele Todesopfer zur Folge hatten. Dieses Thema wurde in den Medien bislang tabuisiert. Doch nun, mit dem Aufbruch des Arabischen Frühlings, wird es Zeit, dass man darüber spricht.

Ich möchte meinen amerikanischen Freunden klar machen, was in Ägypten wirklich geschieht. Ich schicke Bilder und Erklärungen an befreundete Journalisten, damit sie klarstellen, dass dies kein Krieg zwischen Amerika und dem Islam ist, sondern eine Art Racheakt wegen der Politik der Vereinigten Staaten im Nahen Osten. Gleichzeitig denke ich aber auch, dass die Proteste zeigen, dass wir nach dem Arabischen Frühling eine neue Welt aufgebaut haben, die auch das Recht einschließt, seine Stimme zu erheben.

Nur wenige der protestierenden Ägypter haben Amerika besucht. Ich bin schon dort gewesen und habe erfahren, dass es ein großes Land mit vielen unterschiedlichen Menschen ist. Man kann Amerika nicht anhand dieses einen Films verurteilen. Ich weiß wovon ich spreche, denn ich habe an vielen Konferenzen teilgenommen, bei denen über den Islam gesprochen wurde und die Amerikaner sind diesem Glauben gegenüber nicht grundsätzlich negativ eingestellt. Und selbst wenn es islamfeindliche Haltungen einiger Menschen gibt, so steht diesen Personen doch frei, friedlich zu protestieren, denn das bedeutet schließlich Freiheit.

Interview: Nina zu Fürstenberg

Aus dem Englischen von Laura Overmeyer

© ResetDoc 2012

Die prominente Aktivistin und Bloggerin Asmaa Mahfouz war Mitbegründerin der Jugendbewegung des 6. April. Für die letzten Parlamentswahlen in Ägypten ließ sich die 26-Jährige als unabhängige Kandidatin aufstellen. Im Dezember 2011 erhielt sie für ihr politisches Engagement den Sacharow-Preis für Meinungsfreiheit des EU-Parlaments.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de