''Die Revolution ist erst am Anfang''

Alaa al-Aswani ist eigentlich Zahnarzt. Doch bekannt wurde er als Buchautor und Wortführer der "Kifaya"-Protestbewegung. Die Revolution, die er auf dem Tahrir-Platz in Kairo miterlebte, wird weiter gehen, meint er im Gespräch mit Thomas Kohlmann.

Von Thomas Kohlmann

Vor einem Jahr noch war Hosni Mubarak an der Macht und niemand hätte sich vorstellen können, dass er durch Massenproteste aus seinem Amt gedrängt werden könnte. Aber in den Monaten danach schien Ägyptens Reformprozess zum Stillstand gekommen zu sein. Sind die Proteste gescheitert?

Alaa al-Aswani: Ich glaube, dass die ägyptische Revolution etwas Großartiges geschafft hat, indem sie Hosni Mubarak, einen der schlimmsten Diktatoren, dazu gezwungen hat, abzutreten. Aber danach haben wir uns vergaloppiert. Ich glaube nicht, dass die Ziele unserer Revolution schon erreicht wurden – vom Amtsverzicht Mubaraks und dem Gerichtsverfahren gegen ihn einmal abgesehen. Keine Entscheidung des Obersten Militärrates diente dem Zweck, die Revolution zu schützen. Im Gegenteil: Der Militärrat wird immer die Tendenz haben, die Strukturen des Mubarak-Regimes zu erhalten.

Wir sind daher in Ägypten in einer sehr eigenartigen Situation: Mubarak ist weg, aber das Mubarak-Regime übt de facto die Macht aus. Die Wahlen unterstreichen das. Auch wenn der Ablauf der Wahlen fair ist, sind es die Wahlen noch lange nicht. Die Stimmabgabe ist nur ein Teil des gesamten Wahlprozesses. Alles wurde von Anfang an so vom Obersten Militärrat vorbereitet und im Wahlgesetz festgelegt, dass die Muslimbruderschaft die Mehrheit erringt.

Buchcover Der Jakubijân-Bau, auf Deutsch erschienen im Lenos-Verlag
In seinem Bestseller-Roman "Der Jakubijân-Bau" geißelte al-Aswani die Missstände der ägyptischen Gesellschaft: Er beschreibt darin den Mikrokosmos eines Kairoer Mietshauses, für dessen Bewohner Gewalt, Korruption, eine bigotte Sexualmoral und die brutale Klassengesellschaft Ägyptens zum Alltag gehören.

​​Das zeigte sich sehr deutlich daran, wie die Wahlbezirke zugeschnitten waren. Sie waren zu groß, so dass die revolutionäre Jugend bei den Wahlen unterrepräsentiert war. Oder ein anderes Beispiel: In einem Wahlbezirk entdeckten wir, dass alle 176 Angestellten, die dort für die Durchführung der Wahlen zuständig waren, langjährige Mitglieder der Muslimbrüder sind. Ich glaube daher nicht, dass das künftige Parlament die ägyptische Revolution repräsentieren wird. Die Revolution findet in Ägypten auch weiterhin auf den Straßen statt. Und die revolutionäre Jugend geht erst gar nicht davon aus, dass es jemals "ihr" Parlament sein wird.

Einige politische Analysten sagen, es habe in Ägypten gar keine richtige Revolution gegeben. Sie sagen, dass nur ein ganz kleines Segment der ägyptischen Eliten ausgetauscht wurde und meinen damit den innersten Zirkel des Mubarak-Regimes. Der einzige neue politische Machtfaktor sei die Muslimbruderschaft.

Al-Aswani: Ich denke, diese Analysten bringen zwei Dinge durcheinander – nämlich die Revolution und die Errungenschaften der Revolution. Es gibt zwei Elemente, die darüber entscheiden, ob es sich um eine Revolution handelt oder nicht: Das erste ist die Beteiligung des Volkes. Wir hatten eine Beteiligung von mehr als 20 Prozent der Bevölkerung bei der Januar-Revolution.

Das zweite ist, dass das Ziel der Revolution die Beseitigung des alten Regimes war. Und wenn ich Regime sage, dann rede ich über das kulturelle, soziale und politische Regime. Ich glaube, dass die ägyptische Revolution eine der typischsten Revolutionen der Weltgeschichte war. Aber die Vollendung der ägyptischen Revolution liegt noch weit vor uns. Wir stehen nach rund zehn Monaten noch ganz am Anfang. Ich bleibe dabei: Die ägyptische Revolution ist eine der größten Revolutionen der Geschichte – ganz egal, ob das die Analysten mögen oder nicht.

Wie können die Forderungen der Revolution verwirklicht werden?

Al-Aswani: Wenn man unsere mit anderen Revolutionen vergleich, dann wird man feststellen, dass alles seine Zeit braucht. Man beseitigt ein Regime und hat dann das Pech, dass der Militärrat die Revolution gar nicht unterstützt. Heute erkennen wir ganz klar, dass der Militärrat für das Mubarak-Regime steht und es eine Zeit dauern wird, bis wir unsere Ziele erreicht haben. Trotzdem bin ich noch immer optimistisch, denn am Anfang konnte sich niemand vorstellen, dass Mubarak gezwungen werden könnte zurückzutreten.

Mohamed Hussein Tantawi, Vorsitzender des Obersten Rats der Streitkräfte; Foto: dapd
Drohende Blockade der demokratischen Transition am Nil: Der Oberste Militärrat in Ägypten steht im Verdacht, an seinen bisherigen Machtbefugnissen in Staat und Gesellschaft um jeden Preis festhalten zu wollen.

​​Wir haben den wichtigsten und schwierigsten Teil der Arbeit gemacht, aber die Revolution ist noch nicht vorbei. Und die Revolution findet auch weiter in den Straßen statt. Ich denke nicht, dass das künftige Parlament die Revolution repräsentieren wird. Trotzdem sind die Wahlen ein Schritt in die richtige Richtung. Selbst mit diesen islamischen Gruppen im Parlament, von denen ich nicht glaube, dass sie revolutionär eingestellt sind, wird es für den Obersten Militärrat wenigstens keinen rechtlichen Rahmen mehr geben das Land zu regieren.

Wird sich das mächtige ägyptische Militär jemals demokratischen und parlamentarischen Spielregeln beugen?

Al-Aswani: Das mächtigste Element auf der ägyptischen Bühne ist die Revolution selbst! Außerdem muss ich hier zwischen der Armee und dem Obersten Militärrat unterscheiden. Der Militärrat ist die politische Instanz der Armee. Er hat die Rolle des Präsidenten und des Parlaments in den Zeiten des Übergangs übernommen. Die Armee ist etwas anderes. Sie gehört dem ägyptischen Volk und nicht dem Obersten Militärrat!

Ich glaube, dass alles, was wir erreicht haben, damit zusammenhing, dass wir dafür gesorgt haben, immer mehr Druck im Kessel aufzubauen. Die Revolution erzeugte diesen riesigen Druck auf den Straßen. Der Militärrat versuchte, diesem Druck auszuweichen, gab aber irgendwann nach. Das war dann die Revolution. Das ist genau das, was in den vergangenen neun bis zehn Monaten passiert ist. Uns wurde nichts geschenkt. Wir mussten auf der Straße Druck machen, um es zu bekommen.

Was braucht die Opposition als Gegengewicht zur Macht des Militärs?

Al-Aswani: Wegen des revolutionären Drucks gibt es jetzt ein offizielles Bekenntnis des Militärrates, seine Macht bis zum 30. Juni abzugeben. Die Militärs haben gesagt, die neue Regierung werde die Autorität des Präsidenten haben.

Freitagsgebet auf dem Tahrir-Platz in Kairo nach dem Sturz Mubaraks; Foto: AP
Alaa al-Aswani: "Ich glaube, dass alles, was wir erreicht haben, damit zusammenhing, dass wir dafür gesorgt haben, immer mehr Druck im Kessel aufzubauen" - Freitagsgebet auf dem Tahrir-Platz in Kairo nach dem Sturz Mubaraks

​​Damit legen sie einen Teil ihrer Macht in die Hände der künftigen Regierung. Das war eine Kernforderung der Revolution. Ich rechne fest damit, dass der Militärrat am 30. Juni die Macht abgibt und es unmöglich sein wird, das hinauszuzögern.

In ihrem bekanntesten Buch "Der Jakubijân-Bau" haben sie eine von Korruption und Vetternwirtschaft geprägte ägyptische Gesellschaft beschrieben. Wie kann diese Mentalität verändert werden und ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen, wie es die Menschen auf dem Tahrir-Platz während der Revolution beschrieben haben?

Al-Aswani: Die Revolution fand ja nicht nur auf dem Tahrir-Platz statt. Sie war überall, in jeder ägyptischen Stadt. Ich glaube, dass jeder, der diese revolutionäre Haltung einnimmt und bereit ist für seine Freiheit zu sterben, viele positive Erfahrungen macht: Man wird mutiger, verständnisvoller und weniger voreingenommen. Man wird weniger rassistisch, man beurteilt nie wieder andere Menschen nach ihrem sozialen Hintergrund oder nach ihrer Religion.

Ich finde, die Revolution ist psychologisch gesehen sehr positiv. Wenn Sie tatsächlich Teil einer richtigen Revolution sind – und das war bei mir der Fall – dann werden Sie zu einem anderen Menschen, mit anderen Erfahrungen und Empfindungen. Sie lernen Meinungen und Haltungen kennen, die Sie sich niemals hätten vorstellen können. Ich habe vor der Revolution zwar über Menschen geschrieben – aber erst auf dem Tahrir-Platz habe ich gefühlt, was das Wort "Volk" bedeutet. Sie leben drei Wochen lang auf diesem Platz zusammen mit zwei Millionen anderen Menschen und alle spüren, dass sie Teil einer einzigen Familie sind.

Glauben Sie, dass es gelingen wird, den Geist des Tahrir-Platzes am Leben zu erhalten?

Al-Aswani: Absolut! Er existiert noch immer in den Straßen. Man sah ihn während des Massakers bei den Protestierenden am 19. November. Man konnte sehen wie mutig diese jungen Leute sind, wie mutig die jungen Ärzte waren, die Erste Hilfe leisteten. Zwei von ihnen wurden nur deswegen getötet, weil sie ihre politische Meinung ausdrücken wollten.

Wird Ägyptens Jugend jemals klein beigeben?

Al-Aswani: Bis jetzt haben die jungen Leute die Oberhand. Sie sind mächtiger als es auf den ersten Blick erscheint. Der Tahrir-Platz entscheidet, wie es in Ägypten weiter geht. Ich bin davon überzeugt, dass das auch so eine Weile bleiben wird. Nur wenn die Revolution ins Parlament einzieht, wird der Tahrir-Platz zweitrangig werden. Aber weil das künftige Parlament nicht revolutionär sein wird, glaube ich, dass auf dem Tahrir-Platz auch in Zukunft das ausgesprochen wird, was in Ägypten geschehen soll.

Interview: Thomas Kohlmann

© Deutsche Welle 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de