Die verzagte politische Mitte

Obgleich die Salafisten in den Ländern des Arabischen Frühlings bislang stets als kleine lautstarke Minderheit in Erscheinung traten, gelang es ihnen bisher dennoch, dem herrschenden islamistischen Mainstream ihren politischen Stempel aufzudrücken. So auch im Falle des Muhammad-Schmähvideos. Ein Essay des libanesischen Publizisten Samir Farangiya

Von Samir Farangiya

Was sich in arabischen und anderen islamischen Ländern gegenwärtig als Reaktion auf die Veröffentlichung von Ausschnitten aus dem Film "Innocence of Muslims" (Unschuld der Muslime) abspielt, ruft vergleichbare Vorfälle in Erinnerung, die zu ähnlichen Wellen von Wut und Gewalt geführt hatten: die Affäre um die dänischen Karikaturen, der Aufruf des US-amerikanischen Pastors Terry Jones zur Verbrennung des Korans, und schließlich, als Vorläufer von all dem, Salman Rushdies "Satanische Verse".

Bei allen Unterschieden scheint es zumindest äußerlich betrachtet ein verbindendes Element zu geben, was sie zu Stationen einer ganzen Reihe von Missverständnissen zwischen dem Westen und der arabisch-islamischen Welt werden lässt.

Doch gibt es zwei grundlegende Unterschiede zur gegenwärtigen Krise: Zum einen wäre da die Banalität des nun aufgetischten Stoffes: Der Amateurfilm "Innocence of Muslims" ist nämlich kein seriöses Werk, welches man in irgendeiner Weise verteidigen möchte. Vielmehr war er als reines Provokationsmittel gedacht und sollte nur im Internet kursieren.

Blinde Wut

Von solchen Filmen gibt es hunderte, wenn nicht gar tausende – keine Glaubensrichtung bleibt von ihnen verschont. Ironischerweise wäre dieser Film wohl auch ohne großes Aufsehen in den Weiten des Internets verschwunden, wenn er nicht von einigen radikalen Eiferern entdeckt worden wäre.

Salafisten in Tunis; Foto: DW
Radikale Eiferer auf dem Vormarsch: "Die Verzagtheit pragmatischer Islamisten ermöglicht es den radikalen Salafisten, als Vertreter des einzig 'wahren' Islams aufzutreten"

​​Als Beleg für die Banalität des Films sei die einhellig negative Resonanz angeführt, die es beispielsweise im Falle der dänischen Karikaturen oder Salman Rushdies nicht gegeben hatte. Zu jener Zeit war es durchaus noch möglich, vermeintliche Provokationen im Namen der Meinungsfreiheit und der Unabhängigkeit des künstlerischen Schaffens zu verteidigen.

Nun aber gibt es kaum noch jemanden auf der Welt, der jenen Film nicht bereits verurteilt hätte – vom Vatikan über die US-amerikanische Regierung bis hin zu Israel. So bescheinigte etwa der Sprecher des israelischen Außenministeriums dem Film einen "unerträglichen Fanatismus".

Die Wut der Demonstranten schien also keinen konkreten Adressaten zu haben. Sie protestierten vor den Botschaften der USA, weil diese in ihren Augen die Welt regieren – auch wenn nicht ganz klar ist, welche konkreten Schritte sie von diesem Staat fordern. Indem sie die amerikanischen Botschaften attackierten, schienen die salafistischen Eiferer geradezu die Überlegenheit der USA anzuerkennen und sich dem Irrglauben hinzugeben, diese seien in der Lage, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

Im Labyrinth des Kulturkampfes

Der zweite grundlegende Unterschied im Vergleich zu früheren Gewaltexzessen ist auf die historischen Umbrüche im Zuge des Arabischen Frühlings zurückzuführen. Angefangen mit der Affäre um Salman Rushdie, bis hin zu den dänischen Karikaturen hatten wir es noch mit einer arabisch-islamischen Welt zu tun, die im Labyrinth des Kampfes der Kulturen umher irrte. Dieser Kontext hat sich nun im Zuge der arabischen Revolutionen und ihres demokratischen Anspruchs verändert.

Die arabischen Gesellschaften, die sich gerade von ihren Diktatoren befreit haben und sich in Richtung Demokratie bewegen, müssen sich heute eine Reihe von Fragen stellen.

Eine davon formulierte US-Außenministerin Hillary Clinton während einer Presseerklärung nach der Stürmung des US-Konsulates in Bengazi: "Ich frage mich, wie so etwas in einem Land wie Libyen passieren kann, dem wir doch geholfen haben, sich zu befreien, in einer Stadt wie Bengazi, zu deren Rettung vor Zerstörung wir doch beigetragen haben?"

US-Außenministerin Hillary Clinton; Foto: picture-alliance/dpa
Unverständnis über anti-amerikanische Ressentiments und Gewaltexzesse: "Die USA missbilligen jeden absichtlichen Angriff auf die religiösen Gefühle von Andersgläubigen", erklärte US-Außenministerin Clinton.

​​Damit wollte sie in ihrer Funktion als Außenministerin eines westlichen Landes wohl "diplomatisch" sein. Doch es hilft alles nichts: Diese Frage richtet sich ganz konkret und ohne diplomatische Spitzfindigkeiten an die Menschen jener Region.

Denn wenn die Libyer entschieden haben, sich der Welt zu öffnen, eine pragmatische Außenpolitik zu verfolgen und die Unterstützung ihrer Revolution durch die Nato zu akzeptieren, dann müssen sie wohl oder übel damit beginnen, ihre Beziehung zu jenem Westen neu zu definieren.

Die unter dem alten Regime herrschende Heuchelei, sich zwar hinsichtlich der militärischen Zusammenarbeit dem Westen zu öffnen, ihn aber in kultureller Hinsicht zu verteufeln, ist in Zeiten der Demokratie nicht mehr hinnehmbar.

Klare Absage an jede Form von Gewalt

Eine weitere Frage betrifft die Haltung der "schweigenden Mehrheit" in den islamischen Ländern, also all jener, die sich nicht an den Protesten beteiligt haben. Die fortschrittlichste Position, die man vernehmen konnte, bestand aus einer Verurteilung des Films und gleichzeitiger Verurteilung der überzogenen Reaktionen hierauf – etwa so, als stünde beides auf der gleichen Stufe.

Doch genau hierin manifestiert sich die Verzagtheit gegenüber dem Diskurs der Salafisten. Als wollte man sagen: "Eigentlich haben sie ja Recht, bloß ihre Reaktionen schießen ein klein wenig über das Ziel hinaus."

Wenn die Debatte an diesem Punkt halt macht, dann haben die Salafisten schon gewonnen, selbst wenn man sie grundsätzlich kritisiert. Eine Position, die bisher leider kaum zu vernehmen war, ist die klare Ablehnung jener Gewalt, ohne jede Rechtfertigung und frei von jedem Euphemismus. Diesem Film irgendeinen Wert zuzusprechen, ist eine Beleidigung des Verstands, genauso wie seine Gleichsetzung mit den Gewaltausbrüchen eine Beleidigung des moralischen Empfindens ist.

Diese Billig-Produktion ist nicht der Rede und des Aufruhrs wert. Doch solange uns eine solche Nichtigkeit mehr bewegt als all unsere realen Probleme, solange kann in der arabischen Welt keine Rede von echter Demokratie sein, von Freiheit und Würde.

Im Zuge der arabischen Revolutionen und des politischen Reifeprozesses in der Region kann es eigentlich nicht mehr angehen, solchen Vorkommnissen in altbekannter Weise zu begegnen, nämlich, die Schuld allein dem Westen anzulasten, so als trüge er die alleinige Verantwortung. Die alten Rechtfertigungs- und Deutungsmuster machen keinen Sinn mehr in einer Zeit neuer demokratischer Herausforderungen in der arabischen Welt.

Der ägyptische Präsident Mohammed Mursi; Foto: Getty Images
In der Defensive: "Solange die neuen islamischen Machthaber nicht den Mut haben, Strategien und Verhaltensweisen der Salafisten klar und unmissverständlich abzulehnen, solange werden die Salafisten tonangebend sein", warnt Farangiya.

​​In den postrevolutionären arabischen Staaten stehen vor allem die in der Regierungsverantwortung stehenden gemäßigten Islamisten vor der schwierigen Herausforderung, den an pragmatischen Lösungen desinteressierten Salafisten ihre Grenzen zu aufzuzeigen.

Das Gefährliche an den Salafisten ist ja nicht, dass diese in der Lage wären, Wahlen zu gewinnen und die Vormachtstellung im politischen System zu erringen, sondern deren Fähigkeit, dem politischen Diskurs ihren Stempel aufzudrücken.

Es dürfte bekannt sein, dass die salafistischen Bewegungen in ihrer Vorgehensweise der extremen Rechten in Europa oder der Tea-Party in den USA ähneln. Diese stellen ja deshalb eine Bedrohung dar, weil sie in der Lage sind, die Agenda für die politische Auseinandersetzung zu bestimmen. Auf diese Weise hat beispielsweise der religiöse Diskurs Eingang in den US-Wahlkampf gefunden oder die Angst vor Einwanderern in die europäische Politik.

Kampf um die Deutungshoheit

Trotz ihres schwachen Abschneidens bei Wahlen ist es den salafistischen Bewegungen gelungen, der Politik des islamistischen Mainstreams ihren Stempel aufzudrücken. Diese gemäßigten Islamisten begegnen den Salafisten nach wie vor mit einer gewissen Verzagtheit. Die törichten Versuche der Islamisten, den Salafisten das Heft des Handelns wieder zu entreißen, indem sie deren Diskurs übernehmen, lassen diese nur noch deutlicher als Gewinner dastehen.

Die Verzagtheit pragmatischer Islamisten ermöglicht es den radikalen Salafisten, als Vertreter des einzig "wahren" Islams aufzutreten, im Gegensatz zu den anderen Islamisten, die sich auf politisches Geschacher einzulassen scheinen. Diese wirken dadurch, als hätten sie ihre Überzeugungen um des politischen Profits willen verkauft.

Solange die neuen islamischen Machthaber nicht den Mut haben, Strategien und Verhaltensweisen der Salafisten klar und unmissverständlich abzulehnen, solange sie sich nicht selbst eingestehen, dass ihr pragmatischer Kurs nichts Schlechtes ist, solange werden die Salafisten in dieser fragilen Transformationsphase tonangebend sein.

Und sollten die regierenden Islamisten den innerislamischen Kulturkampf um die Deutungshoheit über den politischen Diskurs gegen die politikunfähigen Salafisten wirklich verlieren, wäre dies zweifelsohne ein herber Rückschlag für die im Entstehen begriffenen Demokratien in der Region.

Samir Farangiya

© Qantara.de 2012

Übersetzung aus dem Arabischen von Rafael Sanchez

Der libanesische Publizist Samir Farangiya schreibt regelmäßig für die überregionale arabische Tageszeitung "Al-Hayat".


Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de