Immer mehr Menschen in Aleppo auf der Flucht - Angst vor Racheakten

Nach dem Vormarsch des Regimes in Aleppo sind immer mehr Menschen auf der Flucht vor Zerstörung und Tod. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte vertrieben die heftigen Kämpfe und Luftangriffe fast 30.000 Zivilisten. In den Rebellengebieten im Osten der umkämpften nordsyrischen Stadt wächst zugleich die Angst vor Racheakten des Regimes. Anwohner berichteten von Chaos und Verzweiflung unter den Menschen. Am Dienstagabend befasste sich der Weltsicherheitsrat in New York mit der dramatischen Lage.

Die heftigen Kämpfe in Aleppo gingen zugleich an mehreren Fronten weiter, wie die Menschenrechtler erklärten. Augenzeugen meldeten heftige Luftangriffe auf Rebellengebiete. «Es regnet Fassbomben und Artilleriebeschuss», erklärte ein Aktivist aus Ost-Aleppo. Ein Einwohner mit dem Namen Abu Fatima berichtete, zahlreiche Gebiete seien völlig zerstört und hätten sich in Geisterviertel verwandelt.

Aleppo gehört im fast sechs Jahre dauernden Bürgerkrieg zu den am stärksten umkämpften Gebieten. Bislang kontrollierte das Regime den Westen der Stadt, die Opposition den Osten. Der Armee und ihren Verbündeten war es jedoch in den vergangenen Tagen gelungen, mehr als 30 Prozent der bisherigen Rebellengebiete einzunehmen. Da Ost-Aleppo seit rund drei Monaten vom Regime blockiert wird, herrscht dort akuter Mangel an Lebensmitteln, Treibstoff und medizinischer Versorgung.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International warnte, viele Zivilisten befürchteten Übergriffe der Regierungskräfte. Syriens Regierung habe eine «lange und dunkle Geschichte» von willkürlichen Festnahmen, Menschen seien verschwunden. Deswegen sei es umso wichtiger, Zivilisten in eingenommenen Gebieten zu schützen.

Den Menschenrechtsbeobachtern zufolge suchten mehr als 15.000 Menschen Schutz in anderen Rebellengebieten der Stadt. Mehr als 7.000 Menschen seien in Viertel unter kurdischer Kontrolle geflohen und weitere 5.000 in Stadtteile, die die Armee eingenommen habe. Das UN-Menschenrechtsbüro erklärte, es gebe Berichte, dass Oppositionsgruppen Zivilisten an der Flucht hinderten.

UN-Nothilfekoordinator Stephen O'Brien sprach von 16.000 Menschen, die von heftigen Angriffen auf die Rebellengebiete in Ost-Aleppo in die Flucht getrieben worden seien. In den Rebellengebieten in Ost-Aleppo gebe es keine funktionierenden Krankenhäuser mehr, die Lebensmittelvorräte seien praktisch aufgebraucht.

Der Geschäftsführer der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen, Florian Westphal, sieht derzeit keine Möglichkeit für humanitäre Hilfe von außen. «45 Tonnen medizinische Hilfsgüter von Ärzte ohne Grenzen stehen bereit. Sie könnten innerhalb von 24 Stunden verteilt werden», sagte Westphal der «Heilbronner Stimme» (Mittwoch). Man bemühe sich ständig um Sicherheitsgarantien für die Helfer. «Wir sehen aber keine Anzeichen, dass sich etwas bewegt.»

Unterdessen sollen sich insgesamt 484 Rebellen den Regierungstruppen ergeben haben. Ein Abgeordneter des regimenahen Parlaments im Westen Aleppos, Faris Schehabi, sagte, die Kämpfer gehörten nicht zu den radikalen Fatah al-Scham, Ahrar al-Scham oder anderen Gruppen von Dschihadisten. Ihnen sei Straffreiheit gewährt worden. Über eine solche Amnestie für Kämpfer ist keine offizielle Ankündigung der Regierung bekannt.

Trotz großer Geländegewinne der Regierungstruppen äußerten andere Rebellen, nicht aufgeben zu wollen. «Der Kampf geht weiter», sagte Usama Abu Seid, Berater der oppositionellen Freien Syrischen Armee (FSA). Der Vormarsch des Regimes sei das Ergebnis von «massivem militärischen Druck» gegen Rebellen, die nur leichte Waffen besäßen. «Das bedeutet nicht, dass die Schlacht zu Ende ist», sagte er.

«Ich habe Angst davor, festgenommen zu werden. Das Regime macht keinen Unterschied zwischen Ärzten, Zivilisten und Kämpfern», erklärte ein Mediziner mit dem Namen Abdulhalek aus den Rebellengebieten. «Weil wir in Ost-Aleppo geblieben sind, sind wir alle für sie Terroristen.» Festgenommenen drohten Folter und Tod.

Bei einem neuen Luftangriff in Aleppo kamen Aktivisten zufolge mindestens zehn Menschen ums Leben, die zu Fuß auf der Flucht in weniger gefährliche Gebiete waren. Dutzende Menschen seien in dem von Rebellen gehaltenen Stadtteil Bab al-Nairab im Osten Aleppos verletzt worden, erklärten die Menschenrechtler. Die zivile Rettungsorganisation Weißhelme berichtete von 25 Toten.

Frankreich forderte den Weltsicherheitsrat auf, sich mit den Möglichkeiten zur Hilfeleistung für die Bevölkerung zu befassen.  «Mehr denn je müssen dringend die Kampfhandlungen eingestellt und ein ungehinderter Zugang für humanitäre Hilfe ermöglicht werden», erklärte Außenminister Jean-Marc Ayrault in Paris. Ähnlich hatte sich zuvor auch Deutschland geäußert. Am Mittwoch will sich der Bundestag in einer Aktuellen Stunde mit der Lage in Syrien befassen.

Der nahe Winter droht laut Unicef die Not hunderttausender Kinder in Syrien weiter zu verschärfen. «Wir brauchen eine sofortige Waffenruhe und uneingeschränkten, sicheren Zugang für die Helfer, um Trinkwasser, Medikamente und Essen zu den Menschen in Not zu bringen», sagte der Geschäftsführer des Deutschen Unicef-Komitees, Christian Schneider, der «Bild»-Zeitung. «Der Winter steht vor der Tür, die Lage wird sich noch weiter verschlechtern.» (dpa)