Im Gespräch: UN-Sonderbeauftragter Heiner Bielefeldt besorgt um Religionsfreiheit weltweit

Vom Nahen Osten bis nach Indien und China: Die Freiheit, seine Religion auszuüben, ist in vielen Staaten bedroht oder wird massiv eingeschränkt, meint der UN-Sonderbeauftragte für Religionsfreiheit, Heiner Bielefeldt, im Gespräch mit Christoph Scholz.

Professor Bielefeldt, wie ist die Bilanz des UN-Sonderbeauftragten für Religionsfreiheit für das Jahr 2015?

Heiner Bielefeldt: Leider haben wir in vielen Ländern der Welt massive Einbrüche zu verzeichnen. Das ist Grund zu großer Sorge. Besonders schlimm ist die Lage im Nahen Osten als Folge des Zusammenbruchs ganzer Gesellschaften und einer ideologischen Politisierung des Islam.

Wie sieht es in anderen Weltregionen aus?

Bielefeldt: Auch in Indien verschärft sich die Lage unter der neuen hindu-nationalistischen Regierung: Es kommt teils zu massiven Restriktionen für die Minderheiten von Christen und Muslimen. In Myanmar wächst ebenfalls der Druck auf Minderheiten im Namen einer Nationalideologie, und zwar unter buddhistischem Vorzeichen. In Ägypten werden Anhänger des ehemaligen Präsident Mursi verfolgt. Zwar nicht blutig, aber durchaus rabiat geht es im Einzugsbereich der russisch-orthodoxen Kirche in Russland gegenüber den Zeugen Jehovas zu.

Ist die Religionsfreiheit auf dem Rückzug?

Bielefeldt: Nein, es gibt vielerorts neue Initiativen zu ihrer Verteidigung. Im vergangenen Jahr haben sich Parlamentarier aus allen Kontinenten zusammengeschlossen, um für die Religionsfreiheit einzutreten. Auch im EU-Parlament gibt es neues Engagement. Das Bewusstsein für die Gefährdung ist gewachsen.

Wird Religion wieder stärker als politische Größe wahrgenommen?

Bielefeldt: Ganz sicher. Und zwar nicht nur als Vorwand: Religion an sich meldet sich als eigenständiger Faktor zurück. Aber bei der Bewertung religiös unterbauter Konflikte sollte man die Religion nicht isoliert betrachten, sondern sie immer in gesellschaftspolitischem Kontext sehen. Ob sie dabei Konflikte verschärft oder eher löst, hängt wesentlich davon ab, wie die Menschen mit ihren Überzeugungen umgehen und sie interpretieren.

Christen gelten statistisch als die am meisten verfolgte Minderheit.

Bielefeldt: Ich bin kein Freund solcher Statistiken, weil sie oft eher zu Missverständnissen führen. Außerdem gibt es sehr unterschiedliche Formen der Verfolgung. Wie wollen Sie Verletzungen der Religionsfreiheit durch Terrorgruppen wie Boko Haram in Nigeria mit hochrepressiven Staaten wie China vergleichen? In jedem Falle verdient jeder Verfolgte unsere Solidarität und Unterstützung.

Besonders drastisch erscheint die Verfolgung durch den Islamischen Staat (IS). Gibt es Unterschiede unter den Religionen in ihrem Verhältnis zu Gewalt?

Bielefeldt: Es ist auffällig, wie sich Muster ähneln, auch wenn es nicht gleichgültig ist, welche religiösen Bücher wir haben: Wenn Religion in den Strudel der Gewalt hineingerät, dann schrumpft sie oft zu einer Art Stammesreligion, besonders in zerfallenden Gesellschaften. Das gilt für Nordirland wie für die Zentralafrikanische Republik oder Syrien.

Dennoch, in Nordirland ging es letztlich um politische Macht, nicht um theologische Fragen. Der IS verfolgt im ideologischen Kern hingegen durchaus religiös begründete Erlösungsansprüche.

Bielefeldt: Sicherlich stellen sich im Kontext des Islamismus besondere Fragen. Der Koran hat sperrige Passagen wie die Sure 9. Hinzu kommen Probleme, den Koran historisch-kritisch zu interpretieren. Aber Gewaltbilder gibt es auch in der Bibel, etwa in der Apokalypse. Entscheidend ist, wie die Menschen damit umgehen. Und da macht es einen großen Unterschied, ob man den Koran etwa «saudisch» oder «indonesisch» liest. Hinzu kommt das jeweilige politische Umfeld. In einem Klima politischer Hysterie bietet die Religion dämonisierende und gewalthaltige Bilder. Das schlägt aber nicht in allen Gesellschaften gleichermaßen durch. In manchen Gesellschaften gibt es einen breiten Nährboden für religiös unterbaute Gewaltideologien, andere sind stärker immun dagegen.

Saudi-Arabien kennt hingegen Religionsverfolgung von Rechts wegen, nämlich unter Berufung auf die Scharia, und prügelt etwa den Bürgerrechtler Raif Badawi etappenweise zu Tode.

Bielefeldt: Ich habe das Land besucht, und es war eine bedrückende Erfahrung. Zu den Anschlägen auf Charlie Hebdo wusste man nicht viel mehr zu sagen, als dass die Opfer es ja eigentlich selbst verschuldet hätten. In Saudi-Arabien wären die Karikaturisten wohl ebenfalls exekutiert worden. Der neue König nahm erste Reformansätze wieder zurück: Auch Atheismus gilt inzwischen als Terrorismus.

Dennoch wird das Land als Ordnungsfaktor hofiert.

Bielefeldt: Die Doppelzüngigkeit hat Tradition in Saudi-Arabien: Man stellt sich als Ordnungsmacht gegen den Terror dar, fördert aber gleichzeitig die besonders harte Interpretation des Islam, auch um Glaubwürdigkeitsdefizite korrupter Prinzen zu kompensieren.

Vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise fordern vor allem Unionspolitiker eine größere Verbindlichkeit für Muslime bei der Integration. Müssen hier Fragen der Religion stärker in den Blick genommen werden?

Bielefeldt: Religion gehört zur Identität der Menschen, deshalb muss sie ernst genommen werden. Allerdings dürfen wir Probleme wie die Zwangsverheiratung oder die Verneinung der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht einfach auf den Islam zurückführen, das wäre ganz falsch.

Die CDU hat sich für Integrationsverpflichtungen ausgesprochen.

Bielefeldt: Ich halte das nicht für sinnvoll. Es geht hier um Mentalitäten und Traditionen, die sich nicht mit einem Federstrich verändern lassen. Das verlangt langfristige Lernprozesse, bei denen die Probleme angemessen, aber offen angesprochen werden müssen. Denken Sie etwa daran, wie lang in Deutschland der Wandel hin zur Anerkennung von Lesben und Schwulen gedauert hat.

Wie sollte es dann angegangen werden?

Bielefeldt: Wir müssen etwaige Probleme auf allen Ebenen von der Schule bis zum Integrationskurs offen ansprechen, angemessene Lösungen finden und sie einfordern. Wenn Sie Muslimen aber «Sonderbekenntnisse» abverlangen, schaffen Sie eher Misstrauen; das kann nicht gut sein. Nötig ist aber ein Wandel durch Aufklärung, und das ist eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft.

Wie stehen Sie zum Burka-Verbot?

Bielefeldt: Auch die Religionsfreiheit gilt nicht absolut und ist im Konfliktfall mit anderen Grundrechten abzuwägen. Der Staat kann die Vollverschleierung etwa für Lehrer, Beamte oder in Prüfungssituationen verbieten. Ein allgemeines Burka-Verbot im öffentlichen Leben scheint mir aber nicht sinnvoll zu sein; und für Frauen, die sich aus engen Milieustrukturen befreien wollen, bietet es keine Hilfe. (KNA)