Hrant Dinks Projekt bleibt zehn Jahre nach seinem Tod unvollendet

Als Hrant Dink am 19. Januar 2007 von einem jungen türkischen Nationalisten vor der Redaktion seiner Zeitung "Agos" in Istanbul erschossen wurde, sandte dies eine Schockwelle durch das Land. Tausende Türken gingen nach dem Mord an dem türkisch-armenischen Journalisten unter dem Motto "Wir sind alle Armenier" auf die Straße, um ihre Solidarität zu zeigen. Doch zehn Jahre später steckt die Annäherung zwischen Türken und Armenier fest, und der Streit über die Geschichte spaltet weiter die beiden Gemeinschaften.

"Hrant hatte zwei große Anliegen: Den Dialog zwischen der Türkei und Armenien zu fördern. Und die türkische Gesellschaft über die armenische Frage in der Türkei zu informieren", meint der heutige Chefredakteur von "Agos", Yetvart Dazikyan. Mit der Gründung von "Agos", die als erste Zeitung in der Türkei auf Armenisch und Türkisch erschien, trug Dink wesentlich dazu bei, ein lange totgeschwiegenes Thema in die Öffentlichkeit zu bringen.

Das Verhältnis von Armeniern und Türken wird bis heute bestimmt durch die Ereignisse von 1915, als die Führung des Osmanischen Reichs hunderttausende Armenier aus ihrer angestammten Heimat in Anatolien deportieren ließ. Während die meisten Armenier die Deportationen und Massaker als gezielten Völkermord werten, lehnt der türkische Staat diesen Begriff ab und beharrt darauf, dass in den Wirren des Krieges auch viele Türken getötet wurden.

Unbestritten ist, dass die jahrtausendelange Präsenz der Armenier in Anatolien durch die Massaker im Ersten Weltkrieg praktisch ausgelöscht wurde, und nur wenige Zehntausend in der modernen Türkei verblieben. Viele Armenier überlebten nur durch die Konversion zum Islam und wagten auch Jahrzehnte später nicht, sich öffentlich zu ihrer Herkunft zu bekennen. Vom türkischen Staat wurde das Thema systematisch totgeschwiegen und jede Erinnerung an 1915 unterdrückt.

"Es war durch die Gründung von Agos 1996, dass Hrant Dink die Chance schuf, der türkischen Gesellschaft von den großen Schwierigkeiten der Armenier zu erzählen, die aus 1915 resultierten", sagt Pakrat Estukyan, der heute den armenischsprachigen Teil der Zeitung leitet. "Bis dahin war diese Frage ein Tabu, das nur unter Armeniern diskutiert wurde." Dink habe einen großen Beitrag zu der Debatte geleistet, doch dafür "mit seinem Leben bezahlt".

Dink sei eine "Inspiration" und "Motivation" für viele gewesen und eine "Brücke zwischen der schmerzhaften Vergangenheit und einer hoffnungsvolleren Zukunft", sagt Richard Giragosian vom Forschungsinstitut RSC in Eriwan. Seine Ermordung habe aber auch die Gefahren gezeigt, sich für eine Versöhnung einzusetzen. Zwar wurde rasch ein 17-jähriger Nationalist für die Tat verurteilt, doch wurden die Hintermänner nie identifiziert, und viele Einzelheiten bleiben bis heute im Dunkeln.

In den Jahren nach Dinks Ermordung setzte sich die islamisch-konservative Regierung von Recep Tayyip Erdogan für eine Annäherung an Armenien ein. 2009 schien eine Normalisierung der Beziehungen und eine Öffnung der Grenze in greifbarer Nähe, doch der Widerstand der Nationalisten auf beiden Seiten torpedierte die Versöhnung. Angesichts des Erstarkens des Nationalismus in der Türkei ist heute eine Annäherung wieder in weite Ferne gerückt.

Jede Verwendung des Begriffs Genozid ruft in der Türkei noch immer wütende Reaktionen hervor, wie der Bundestag im Sommer nach seiner Resolution erfahren musste, in der er von einem "Völkermord" gesprochen hatte. Doch abseits der Debatte über diesen Begriff ist in der türkische Gesellschaft die Bereitschaft gewachsen, sich mit der Geschichte der Armenier auseinanderzusetzen und auch das Leid anzuerkennen, das ihnen angetan wurde.

"Der Mann mag verschwunden sein", sagt Giragosian. "Doch sein Geist bleibt lebendig und inspiriert eine neue Generation, nach vorne zu schauen." (AFP)