Auf der Suche nach Freiheit und Selbstbestimmung

Im Fokus der diesjährigen Berlinale stehen Filme, die die Umbrüche in der arabischen Welt aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Darunter ist auch der Dokumentarfilm "Im Schatten des Mannes", der vier Ägypterinnen eindrucksvoll porträtiert. Amira El Ahl hat sich mit der Regisseurin Hanan Abdalla unterhalten.

"Eine Frau kann nicht unabhängig sein in einem Land, das nicht unabhängig ist. Sie kann nicht effektiv sein in einem Land, das geplagt wird von Ineffizienz. Und sie kann nicht frei sein in einem Land, das versklavt wird. Man kann unmöglich die Forderungen der Frau von der gesellschaftlichen Realität trennen..."

Shahinda Makled sagt diese Sätze während im Hintergrund Bilder des Volksaufstands in Ägypten aus dem Jahr 2011 laufen. Zu sehen sind Frauen, die Demonstrationszüge anführen und mit Parolen die Massen mobilisieren. Es sind Frauen, die sich mutig der Polizei entgegenstellen, die Seite an Seite mit Männern gegen das totalitäre Regime in Ägypten kämpfen.

Ein Leben für die Gerechtigkeit

Frauen demonstrieren gegen Mubarak auf dem Tahrir-Platz in Kairo; Foto: AP/dapd
Das "weibliche Gesicht der Revolution": Während des Volksaufstands gegen das autoritäre Mubarak-Regime waren Frauen aktiv beteiligt.

​​Shahinda Makled kämpft schon ihr ganzes Leben lang – für die Rechte der Frauen und der Bauern in Ägypten. "Verteidige Deine Prinzipien bis zum Tod." Diesen Rat gab ihr der Vater noch am Sterbebett mit auf den Lebensweg. "Er war ein wunderbarer, progressiver Mann, der darauf Wert legte, dass ich studiere und unabhängig bin", erzählt Shahinda Makled, während sie ihre Hände durch einen Haufen vergilbter Fotografien gleiten lässt, die sie vor sich ausgebreitet hat. Geschichte und Geschichten liegen vor ihr und ein Leben hinter ihr, das sie dem Kampf für Gerechtigkeit gewidmet hat.

Shahinda Makled ist eine von vier Frauen, die Hanan Abdalla für ihren Dokumentarfilm "Im Schatten des Mannes" ("In The Shadow of a Man") im Frühjahr 2011 begleitet hat. Der Film läuft bis zum 19. Februar auf den Internationalen Filmfestspielen in Berlin im Panorama-Programm.

Eine unbegreifliche Realität

Hanan Abdalla läuft durch das Zentrum Kairos, es ist früher Abend und die Straßen sind stiller als man es von dieser immer wachen Stadt gewöhnt ist. Noch eben war sie im Schneideraum, ihr nächster Film steckt mitten in der Produktion. Am nächsten Morgen muss sie bereits früh am Flughafen sein. Doch davor gibt es noch viel zu organisieren.

Vor allem aber will sie vor ihrer Abreise noch im Krankenhaus ihre beste Freundin besuchen, die am Tag zuvor bei den Demonstrationen zwischen Tahrir-Platz und Innenministerium von einer Schrotladung getroffen wurde. Ihre Freundin hatte Glück im Unglück, dass die beiden Kugeln, die ihr Gesicht trafen, nicht tödlich waren.

Es ist diese schreckliche, oft unbegreifliche Realität, in der sich Ägypten gerade befindet, und die Hanan Abdalla filmisch festhält – wobei sie oftmals vergisst, welch großer Gefahr sie sich selbst dabei aussetzt.

Als sie im vergangenen Dezember erfuhr, dass ihr Dokumentarfilm von der Berlinale angenommen wurde, befand sie sich in einer ganz ähnlichen Situation. Sie bekam die Nachricht am 18. Dezember – zu einem Zeitpunkt, als vor dem Kabinett im Zentrum Kairos Polizei und Armee Demonstranten angriffen. Viele Menschen wurden verletzt und einige bezahlten den Protest mit ihrem Leben.

"Ich war so wütend über das, was sich in den Straßen ereignete, dass ich mit dem Glück, der Nachricht von der Berlinale, zunächst nicht umgehen konnte", erzählt Hanan Abdalla. Es dauerte, bis die Nachricht wirklich in ihr Bewusstsein drang. "Es ist überwältigend und gleichzeitig bin ich immer noch beeindruckt davon, dass ausgerechnet mein Film auf der Berlinale gezeigt wird", gesteht sie. Denn die 23jährige hatte vorher noch nie einen Film gemacht.

Intime Einblicke in den Alltag der ägyptischen Frau

Filmszene aus Hanan Abdallas Dokumentarfilm Im Schatten des Mannes; Foto: &copy Hanan Abdalla/Berlinale
Hanan Abdallas Dokumentarfilm verwebt die Geschichten und Bilder des Alltags von vier verschiedenen Frauen zu einem dichten und intimen Porträt von politischer Sprengkraft.

​​Nach ihrem Politik- und Philosophiestudium in London, wo die Ägypterin geboren und aufgewachsen ist, hatte sie einige Filmkurse besucht. Sie hatte gerade einen Dokumentarfilm-Kurs belegt, als die Revolution in Ägypten ausbrach. Kurzerhand brach Hanan Abdalla den Kurs ab und reiste nach Kairo. Ursprünglich hatte sie vor, nur zehn Tage zu bleiben. Es wurde ein Jahr daraus.

Per Zufall erfuhr sie über eine Freundin der Familie, dass die Organisation UN-Women einen Film über die Frauen und die Revolution in Ägypten machen wollte und jemandem suchte, der das Projekt realisieren könnte. "Ich wollte das zuerst überhaupt nicht machen, zum einen, weil ich es mir nicht zutraute und zum anderen, weil ich der Meinung war, dass es wichtigere Themen gäbe", erzählt Hanan Abdalla. Doch ließ sie sich dann doch überreden. Zum Glück, wie sie heute sagt.

Der Film "Im Schatten des Mannes" lässt vier Frauen mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund über ihr Leben und das Leben von Frauen im heutigen Ägypten erzählen. Es sind intime Porträts entstanden, die Einblicke in den Alltag von Frauen in Ägypten eröffnen wie ihn Außenstehende wohl selten zu sehen bekommen.

Die vier Frauen öffnen Hanan Abdalla nicht nur die Türen zu ihren Wohnungen, sondern auch zu ihrem Leben und ihren intimsten Wünschen, Hoffnungen und Sehnsüchten. Es geht in dieser Dokumentation nicht in erster Linie um die Revolution, den Widerstand gegen das Mubarak-Regime und dem Kampf auf der Straße, sondern vielmehr um die gesellschaftlichen Probleme der Frauen, die sich auch nach dem Umsturz nicht geändert haben.

"Für mich war vor allem der wirtschaftliche Faktor wichtig", sagt Hanan Abdalla. So erzählt die Protagonistin Badreya Mohammed davon, wie sie davon geträumt hatte, zur Kunstschule zu gehen. Doch daraus wurde nichts. Sie heiratete, bekam vier Kinder und lebt seit dieser Zeit auf dem Lande, im oberägyptischen  Beni Suef, wo sie Enten und Hühner züchtet und sich gemeinsam mit ihrem Mann um die Felder kümmert.

Ägypterin mit ihren Kindern während der Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo; Foto: AP
Zwischen Revolution und Alltag: "Es geht in Hanan Abdallas Dokumentation nicht in erster Linie um die Revolution, den Widerstand gegen das Mubarak-Regime und dem Kampf auf der Straße, sondern vielmehr um die gesellschaftlichen Probleme der Frauen, die sich auch nach dem Umsturz nicht geändert haben", schreibt Amira El Ahl.

​​"Mein Mann kann seit 18 Jahren keine Arbeit finden", sagt sie. "Warum sollen wir überhaupt unser Diplom machen, wenn es für uns danach keine Beschäftigung gibt?" Wie Badreya Mohammed geht es Millionen Ägyptern. Geschichten wie diese erklären, warum sie genug hatten vom System Mubarak, warum Millionen auf die Straße gingen.

Arabischer Frühling im Fokus der Berlinale

Bei der diesjährigen Berlinale steht der Arabische Frühling im Fokus. Das Programm der Berlinale 2012 thematisiert den sogenannten "Arabischen Frühling" und seine Entwicklungen aus verschiedenen Perspektiven und in unterschiedlicher Form.

So zeigen zahlreiche Regisseure aus der arabischen Welt in Dokumentarfilmen, wie sie die Ereignisse erlebt haben, während andere in fiktionalen und dokumentarischen Filmen einen Blick auf die Region werfen, ohne stets direkt die Revolution zu thematisieren. "Vielmehr setzen sie sich mit entscheidenden existentiellen Fragen und mit der Notwendigkeit auseinander, ihre eigene Identität zu definieren – zum Teil auch in humoristischer Form", heißt es dazu in einer Pressemitteilung der Berlinale.

Hanan Abdalla ist bereits mit Dreharbeiten für ihren zweiten Dokumentarfilm beschäftigt. Dieses Mal geht es um die Partizipation von Frauen bei den ägyptischen Parlamentswahlen. Ihr Wunsch: Immer etwas filmisch umzusetzen, was ehrlich ist und was man sich selbst auch gerne ansehen würde. Bei ihrem ersten Film ist dieses Konzept jedenfalls aufgegangen. Ihr Filmdebüt "Im Schatten des Mannes" auf der Berlinale zu sehen, lohnt sich in jedem Fall.

Amira El Ahl

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de