Den Nerv getroffen

Palästinensische Aktivisten setzen zunehmend auf Strategien des friedlichen Widerstands: Die von ihnen errichten Zeltlager auf geplanten Siedlungsgebieten stehen sinnbildlich für den Kampf, der um die B- und C-Gebiete im Westjordanland entbrannt ist. Von Ingrid Ross

Von Ingrid Ross

Bei Demonstrationen im Westjordanland sind in den letzten Wochen und Monaten vermehrt Palästinenser und israelische Soldaten und Siedler zusammengestoßen, so dass der israelische Generalstabschef Benny Gantz jüngst vor dem Ausbruch einer "Dritten Intifada" warnte.

Auseinandersetzungen stehen in der von Israel besetzten Westbank an der Tagesordnung. Ob regelmäßige Freitagsdemonstrationen gegen den Verlauf der israelischen Sperranlage, wie in dem Oscar-nominierten Film "Five Broken Cameras" dokumentiert, oder Solidaritätskundgebungen mit Hungerstreikenden vor dem berüchtigten israelischen Ofer-Gefängnis nahe Ramallah – anfänglich als friedliche Proteste organisiert, eskalieren diese Aktionen regelmäßig zu Gefechten, in denen Palästinenser Steine werfen und das israelische Militär mit dem Einsatz von Tränengas, Blendgranaten und Gummi-ummantelten Stahlgeschossen versucht, die Protestversammlungen aufzulösen.

Benny Gantz, Generalstabschef Israels; Foto: AP
Furcht vor dem Ausbruch einer "Dritten Intifada": Israels Generalstabschef Benny Gantz sieht angesichts der zunehmenden Zusammenstöße zwischen Palästinensern und der israelischen Armee Anzeichen für eine wachsende Konfrontation.

​​Den übermäßigen Einsatz dieser Maßnahmen, im Englischen als "crowd control" bekannt, hat jüngst die israelische Menschenrechtsorganisation B'tselem in einem Bericht scharf kritisiert. Dass die Spannungen in den letzten Monaten eine neue Qualität erreicht haben, zeigt allein ein Blick in die Statistik: Seit der Eskalation zwischen dem Gazastreifen und Israel im November 2012 sind UN-Angaben zufolge etwa 1.500 Palästinenser in der Westbank verletzt worden.

Kampf um die B- und C-Gebiete

Der gewaltlose Widerstand der Palästinenser hat seit Januar eine neue Form angenommen, die an Aktionen der Occupy-Bewegung(en) erinnert: Die Errichtung von Zeltlagern auf strategisch wichtigem palästinensischen Grund und Boden im Westjordanland nahm mit "Bab al-Shams" am östlichen Standrand außerhalb Jerusalems den Anfang. Die israelische Regierung hatte nach der Aufwertung Palästinas zum Beobachterstaat in den Vereinten Nationen beschlossen, die Entwicklung des seit Jahren umstrittenen E1-Gebiets östlich Jerusalems zur Bebauung voranzutreiben.

Die internationale Staatengemeinschaft reagierte auf die Entscheidung Netanjahus mit den schärfsten Verurteilungen des diplomatischen Repertoires. Die Palästinenser errichteten aus Protest auf selbigem Gebiet eine Zeltstadt und nannten sie "Bab al-Shams – Tor der Sonne".

Die Aktion wurde von der Palästinensischen Autonomiebehörde geduldet, wenn nicht gar unterstützt, und medial professionell inszeniert. In der Folge entstanden im Westjordanland weitere symbolische Dörfer wie "Bab al-Karameh – Tor der Würde" oder "Bab al-Qamar – Tor des Mondes".

Palästinensische Aktivisten Bab al-Shams; Foto: A.Gharabli/AFP/Getty Images
Friedliche Protestformen gegen den Siedlungsbau: Palästinensische Aktivisten hatten im vergangenen Januar etwa 20 Zelte errichtet, um gegen den von Israel angekündigten Siedlungsbau auf dem Gebiet E1 zu protestieren. Sie nannten den Ort des Protests "Bab al-Shams" (Tor zur Sonne) und erklärten, dort solle ein neues palästinensisches Dorf entstehen.

​​Die Zeltstädte und Sit-ins stehen sinnbildlich für den Kampf, der um die B- und C-Gebiete im Westjordanland entbrannt ist. In der Vergangenheit waren es vor allem national-religiöse Siedler, die spontan Wohncontainer ohne staatliche Genehmigung in den besetzten Gebieten errichteten. Einmal installiert, hat sich die Räumung dieser Außenposten als ein höchst zähes Verfahren erwiesen, das sich jahrelang hinziehen kann.

Palästina braucht internationale Unterstützung

Die palästinensischen Aktivisten von "Bab al-Shams", "Bab al-Karameh" oder "Bab al-Qamar" ließ Israel jedoch nicht lange gewähren. Obwohl die Zelte auf dem E1-Gebiet auf palästinensischem Privatgrund aufgeschlagen worden waren, wurde das Lager innerhalb von 48 Stunden geräumt – ohne richterliche Deckung durch den Obersten Gerichtshof. Die neue Strategie der Palästinenser trifft auf israelischer Seite einen empfindlichen Nerv.

Auch wenn keines der Dörfer Bestand hatte: Mit "Bab al-Shams" haben die Palästinenser zwei wichtige Ziele erreicht. Zum einen erlangten sie internationale Aufmerksamkeit für die fortgesetzte Landnahme durch Israel im Westjordanland. Zum anderen zogen bei der Aktion unterschiedliche Akteure an einem Strang.

Eine Allianz aus zivilgesellschaftlichen und parteipolitischen Gruppen, unter ihnen lokale Widerstandskomitees, die Fatah und Al-Mubadara, organisierte die Initiative mit Einverständnis der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Die PA, die der Sicherheitskooperation mit Israel verpflichtet ist, ist im letzten Jahr eher dadurch aufgefallen, öffentliche Proteste aus den Reihen der Zivilgesellschaft einzuhegen denn sie zu befördern. Die Kooperation zwischen Präsident Abbas und seinen israelischen Counterparts hat nach dem UN-Gang jedoch einen Tiefpunkt erreicht.

Bislang kann von einer dritten Intifada noch nicht gesprochen werden, denn im Unterschied zur Ersten und Zweiten Intifada haben sich die Demonstrationen noch nicht zu Massenprotesten entwickelt, an denen sich breite Bevölkerungsschichten beteiligen.

Gewaltlose Strategien gegen die Besatzung

Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas bei den Vereinten Nationen; Foto: Getty Images/AFP
Diplomatischer Punktsieg für Palästinenserpräsident Abbas: Die UN-Vollversammlung hatte den Palästinensern im letzten Dezember einen aufgewerteten Beobachterstatus als Nicht-Mitgliedstaat gewährt.

​​Zudem ist die palästinensische Führung im Westjordanland daran interessiert, dass die Lage nicht eskaliert. Nachdem den Palästinensern jahrzehntelang das Image terroristischer Gewalttäter anhaftete, ist sich die PA bewusst, dass sie mit der Aufnahme des bewaffneten Kampfs die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft aufs Spiel setzen würde und verfolgt deswegen explizit die Strategie des gewaltlosen Widerstands.

Einen eigenen Staat in den Grenzen von 1967 wird sie allein nicht verwirklichen können. Hierfür ist die Unterstützung der internationalen Öffentlichkeit und der Staatengemeinschaft unverzichtbar.

Doch je näher der Besuch von US-Präsident Obama rückt, desto deutlicher wird, dass die Palästinenser wohl vergeblich auf einen amerikanischen Impuls für die Wiederaufnahme von Verhandlungen über die Zwei-Staaten-Lösung warten werden.

Aus Sicht der Verhandlungsführer unter Leitung von Präsident Mahmud Abbas sind Zugeständnisse der israelischen Regierung unabdingbar, um zu ernsthaften Friedensgesprächen zurückzukehren: Die Freilassung von Gefangenen könnte den Druck der Straße mildern und deeskalierend wirken, doch die Anerkennung der Grenzen von 1967 als Grundlage für die Gespräche und die Einstellung des Siedlungsbaus zählen für die palästinensische Führung zu den Grundvoraussetzungen für die Wiederaufnahme von Verhandlungen.

Zugleich schwinden in der israelischen Politik die Unterstützer einer Zwei-Staaten-Lösung. Mit einem Einlenken der neuen Regierung Netanjahus ist nicht zu rechnen.

Engagiert sich die internationale Gemeinschaft - allen voran die USA - nicht für eine baldige Wiederaufnahme direkter Verhandlungen, dürfte den Palästinensern in naher Zukunft eine Richtungsentscheidung bevorstehen: Die Abkehr von der Zwei-Staaten-Lösung und der Kampf für gleiche Rechte mit Israelis in einem gemeinsamen Staat oder der bewaffnete Widerstand zur Befreiung der von Israel besetzten Gebiete.

Ingrid Ross

© Qantara.de 2013

Ingrid Ross ist Leiterin des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ost-Jerusalem.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de