Gewalt und tiefe Gräben: Neuwahl in polarisierter Türkei

Seit Juni dauert die politische Ungewissheit in der Türkei an, seitdem eskaliert auch die Gewalt. Bringt die Neuwahl zum Parlament ein Ende der Hängepartie - oder lässt Erdogan ein drittes Mal wählen? Von Can Merey

Ministerpräsident Ahmet Davutoglu blickt dieser Tage gütig von den Wahlplakaten. «Es gibt kein Du oder Ich, es gibt die Türkei», steht dort geschrieben - ein Aufruf zur Einheit vor der Neuwahl zum Parlament am 1. November. Doch von Einheit kann keine Rede sein.

Die Türkei ist gespalten in glühende Anhänger und erbitterte Gegner von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Auch wenn Erdogan gar nicht antritt, dreht sich bei der Wahl doch alles um ihn. Die Abstimmung könnte den Beginn des Endes von Erdogans Ära einläuten - oder den Weg dafür bereiten, dass er doch noch zum fast allmächtigen Herrscher aufsteigt. Bei der Wahl im Juni musste der erfolgsverwöhnte Politiker eine herbe Niederlage einstecken.

Obwohl Erdogan nach Kräften Wahlkampf betrieb (was die Verfassung dem Präsidenten verbietet), verfehlte seine islamisch-konservative AKP erstmals die absolute Mehrheit im Parlament in Ankara. Die AKP fiel von fast 50 Prozent im Jahr 2011 auf unter 41 Prozent der Stimmen. Auch das hätte zur absoluten Mehrheit der Sitze gereicht - wenn nicht die von Erdogan verhasste pro-kurdische HDP spektakulär die Zehn-Prozent-Hürde übersprungen hätte. Die HDP war mit dem Versprechen angetreten, das von Erdogan angestrebte Präsidialsystem mit ihm an der Spitze um jeden Preis zu verhindern.

Koalitionsverhandlungen der AKP mit der größten Oppositionspartei - der Mitte-Links-Partei CHP - blieben nach der Juni-Wahl ergebnislos, wofür die CHP Erdogan verantwortlich machte. Der Präsident rief Neuwahlen zum 1. November aus. Umfragen deuten allerdings darauf hin, dass die AKP dann wieder die absolute Mehrheit verfehlen wird.

Sein Vorhaben, ein Präsidialsystem einzuführen, müsste Erdogan in diesem Fall auf absehbare Zeit zu den Akten legen. Während die AKP Erdogan bedingungslos ergeben ist, hat der Präsident unter den potenziellen Koalitionsparteien keine Freunde. Außerdem dürfte kaum ein Koalitionspartner akzeptieren, dass Erdogan weiterhin den Regierungskurs bestimmt - was nach der Verfassung nicht dem Staatsoberhaupt, sondern dem Ministerpräsidenten zusteht.

Erdogan müsste davon ausgehen, in einer Koalitionsregierung an den Rand gedrängt zu werden. Damit nicht genug: Er müsste auch damit rechnen, dass ein Koalitionspartner auf der Aufklärung von Korruptionsvorwürfen gegen frühere Minister und Erdogans persönliches Umfeld besteht, die aus seiner Zeit als Regierungschef stammen.

Seit der Wahl im Juni versinkt das Land in einem Strudel der Gewalt. Seit Juli eskaliert der Konflikt mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK wieder. Erdogan hat angekündigt, den Kampf gegen die PKK fortzusetzen, «bis innerhalb unserer Grenzen kein einziger Terrorist übrig bleibt». Die Türkei wird von Anschlägen erschüttert, für die wahlweise die PKK, die linksextreme DHKP-C oder die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verantwortlich gemacht werden.

Eine neue Dimension der Gewalt erlebte die Nation drei Wochen vor der bevorstehenden Wahl. Mitten in Ankara wurden beim schwersten Anschlag seit Gründung der Republik mehr als 100 Menschen getötet. Die beiden Selbstmordattentäter, die einen regierungskritischen Friedensmarsch angriffen, sollen dem IS angehört haben.

Das Massaker verschärfte die Polarisierung der Gesellschaft weiter. Die HDP, die schon zuvor immer wieder angegriffen wurde, sah sich als Ziel der Bluttat. Und sie machte die politische Führung in Ankara mitverantwortlich für den Anschlag. Der Ko-Vorsitzende der Partei, Selahattin Demirtas, sprach von einem «Angriff des Staates auf das Volk». Kritiker werfen Erdogan vor, er habe den IS in der Vergangenheit unterstützt oder zumindest gewähren lassen.

Die Regierung machte nach dem Anschlag keine glückliche Figur. Davutoglu sagte sinngemäß, man habe zwar eine Liste mit potenziellen Selbstmordattentätern. In einem Rechtsstaat könne man gegen die Verdächtigen aber nicht vorgehen, bevor sie nicht zur Tat schritten.

Auch Davutoglus missglückter Versuch, sich klar vom IS-Gedankengut zu distanzieren, sorgte für Häme. Zwischen dem Islam-Verständnis des IS und dem der Regierung gebe es «einen Unterschied nicht von 180 Grad, sondern von 360 Grad», sagte er - und implizierte damit ungewollt, man läge mit den Terroristen ideologisch auf einer Linie. Kritiker spotteten, in der Türkei würden mehr Menschen wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten festgenommen als IS-Verdächtige.

Nach dem Massaker von Ankara waren Befürchtungen laut geworden, die Wahl am 1. November könnte verschoben oder abgesagt werden. Die Menschen hoffen nun, dass es in den Tagen vor der Abstimmung nicht erneut zu einem schweren Anschlag kommt. Und sie hoffen auf ein Ende der politischen Hängepartie, die seit Juni andauert.

Denn die zentrale Frage ist: Was passiert, wenn die AKP - wie in Umfragen vorhergesagt - erneut die absolute Mehrheit verfehlt? Am wahrscheinlichsten wäre dann eine Koalition der AKP mit der CHP, sagt Sinan Ülgen vom Zentrum für Wirtschafts- und Außenpolitikstudien (Edam) in Istanbul. «Die größte Ungewissheit ist, ob Erdogan diese Koalition akzeptiert oder das Land in eine dritte Wahlrunde zwingt - ein Szenario, das nicht ausgeschlossen werden kann.» (dpa)

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