Sieger Hamas

Mit seiner Luftoffensive im Gaza-Streifen hat Israel die Hamas militärisch geschwächt, politisch aber salonfähig gemacht. Die USA oder die Europäer suchen Wege, mit der neuen arabischen Welt ins Gespräch zu kommen. Bedingungslose Solidarität mit Israel ist nicht mehr garantiert. Tomas Avenarius kommentiert.

Von Tomas Avenarius

Der Arabische Frühling ist in Palästina angekommen. Nicht, wie erwartet, mit einem Volksaufstand gegen die korrupte PLO-Vetternwirtschaft unter dem machtlosen Präsidenten Mahmud Abbas, dem Partner der Israelis und des Westens. Auch nicht mit Schmährufen gegen die Hamas, die den Menschen im Gaza-Streifen nichts gebracht hat außer Krieg, Tod und Zerstörung.

Nein, der Arabische Frühling ist in einer schwarzen Limousine in den Gaza-Streifen vorgefahren: Ägyptens Premier stieg aus, ließ sich ein blutendes Kind in die Arme legen, versicherte den Menschen unter Tränen seine Solidarität. "Was in Gaza geschieht, ist ein Angriff auf die Menschlichkeit", sekundierte aus Kairo Ägyptens Präsident Mohammed Mursi.

Kaum war der Ägypter abgereist, kam der tunesische Außenminister. Und nun wird der Chef der Arabischen Liga Gaza die Ehre geben. Glanzvoller könnte die Anerkennung der Hamas als Vertreter der Palästinenser in der neuen arabischen Welt nicht sein: Mit seiner Luftoffensive hat Israel die Hamas militärisch geschwächt, politisch aber salonfähig gemacht.

Explosion eines israelischen Geschosses in Gaza-Stadt, Foto: Reuters
Neuerliche Politik der militärischen Konfrontation: Seit Beginn der israelischen Militäroperation im Gazastreifen am Mittwoch sind weit über 80 Palästinenser getötet worden, darunter viele Frauen und Kinder.

​​Seit einer Woche bombardieren die Israelis den Küstenstreifen, der ein 350 Quadratkilometer großes Gefängnis für 1,7 Millionen Palästinenser ist. Die Regierung von Premier Benjamin Netanjahu nennt den Grund: Die seit Monaten anhaltenden Raketenangriffe aus Gaza "sind für keinen Staat hinnehmbar", Geschosse fliegen bis Tel Aviv und Jerusalem, Israelis sterben.

Terror oder Krieg

Ebenso sterben in Gaza Zivilisten und Kinder. Seit 60 Jahren kann weder das Leid der einen noch das Unglück der anderen die kranke Logik des Palästina-Konflikts durchbrechen. Terror oder Krieg – aus Sicht der Opfer läuft Beides auf dasselbe hinaus – sind im unheiligen Land angeblich die einzigen Mittel, politische Ziele zu erreichen.

Das Verhalten der Kontrahenten ist pathologisch, Palästinenser und Israelis haben die Gewalt längst verinnerlicht. Die Radikalen unter den Arabern wollen Gesamtpalästina zurückerobern, bestreiten das Existenzrecht des jüdischen Staates. Die Israelis antworten, man müsse die Feuerkraft des Gegners alle paar Jahre dezimieren, sie sehen sich belagert von Feinden. Dieser Irrsinn hätte noch 50 Jahre weiter gehen können. Der arabische Aufstand aber verändert die Ausgangslage dramatisch: Nach dem Aufstand muss die Palästina-Frage neu gestellt werden.

Säkulare Führer wie Gamal Abdel Nasser oder Hafis Al-Assad hatten erfolglos versucht, das Problem "allarabisch" zu lösen. Ihre Chimäre arabischer Einheit endete mit den Kriegen von 1967 und 1973. Seitdem standen die Palästinenser allein da, die arabische Solidarität blieb ein Lippenbekenntnis, korrupte Regime tolerierten auf Druck des Westens Israels Politik der Härte. Jetzt, wo Islamisten die Nachfolge der Diktatoren antreten, können sich die Religiösen Palästina zuwenden. Das fällt ihnen leicht: In der Hamas finden sie eine der Ihren.

Israels Premier Benjamin Netanjahu; Foto: Reuters
"Israel kann die Menschen mit Bomben in noch größere Radikalität treiben, Verhandlungslösungen boykottieren mit seinem Siedlungsbau: Das erwachende arabische Selbstbewusstsein wird sich am Palästina-Problem umso stärker ideologisch aufladen – Netanjahu gibt einen nützlichen Feind ab", meint Thomas Avenarius

​​Beispiel Ägypten: Der Friedensvertrag mit Israel wurde vom Volk nie akzeptiert. Der Präsident und Muslimbruder Mursi mag seine internationalen Verpflichtungen kennen. Er will aber auch seine Wähler zufrieden stellen. Palästina-Frage und Camp-David-Vertrag könnten zur Nagelprobe werden, trotz der weit drängenderen sozialen Probleme.

Keine bedingungslose Solidarität

So wird sich jedes Land entscheiden müssen, dessen Regime unter dem Druck der Straße fällt. Es schließen sich sogar Staaten an, denen die Revolte bisher erspart blieb: Der Emir von Qatar steht mit dem Scheckbuch bereit. Die Saudis lassen sich nicht lumpen, die Türken geben sich als Freunde der Hamas. Auch international verschieben sich die Gewichte. Die USA oder die Europäer suchen Wege, mit der neuen arabischen Welt ins Gespräch zu kommen: Bedingungslose Solidarität mit Israel ist nicht mehr garantiert.

Ja, Israel kann noch einmal Stärke zeigen. Es kann die Menschen mit Bomben in noch größere Radikalität treiben, Verhandlungslösungen boykottieren mit seinem Siedlungsbau: Das erwachende arabische Selbstbewusstsein wird sich am Palästina-Problem umso stärker ideologisch aufladen – Netanjahu gibt einen nützlichen Feind ab. Dann aber steht Israel keiner panarabischen, sondern einer islamischen Front gegenüber – es ist nur eine Frage der Zeit.

Eine ähnliche Front begleitete Israel nach der Staatsgründung und zerbrach erst mit dem Camp-David-Vertrag. Nun könnte der Kreislauf von vorne beginnen, wenn die Parteien den historischen Augenblick ignorieren. Die Lösungen sind bekannt: Sicherheit für Israel, Menschenwürde und ein Staat für die Palästinenser, Druck auf die Kontrahenten von außen. Die alten Ausreden jedenfalls tragen nicht mehr weit.

Tomas Avenarius

© Süddeutsche Zeitung 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de