Gleichheit in Gefahr

In Tunesien, dem einstigen arabischen Musterland der Emanzipation, regt sich zunehmend Widerstand gegen einen Artikel der neuen Verfassung, der in den Augen von Frauen- und Menschenrechtsaktivisten die Gleichheit der Geschlechter untergräbt. Aus Tunis informiert Sarah Mersch.

Dossier von Sarah Mersch

Vor der Revolution waren die Linien für die gesellschaftlichen Rechte der Frauen klar gezogen: Auf der einen Seite existierte der "Staatsfeminismus", verkörpert allen voran von Leila Trabelsi, der Ehefrau von Staatschef Zine El Abidine Ben Ali, die die Rechte und Errungenschaften ihrer Mitbürgerinnen zu ihrer wichtigsten Angelegenheit erklärt hatte. In der Presse war die Präsidentengattin allgegenwärtig, konkrete Reformen für die Rechte der Frauen gab es hingegen kaum.

Auf der anderen Seite gab es einige Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, die sowohl gegen die Diskriminierung der Frauen, als auch gegen eben jenen Fassadenfeminismus der Ben Ali-Diktatur kämpften, mit geringen Mitteln und stets vom Regime mit Argusaugen beobachtet. Zwischen diesen beiden Welten bewegten sich das Gros der Tunesierinnen, die ihre relativ großen Freiheiten - im Vergleich zu anderen Ländern in der Region - als gegeben ansahen.

Als im Dezember 2010 die Revolution ausbrach, die schließlich zum Regimewechsel führte, gingen Frauen und Männer gemeinsam auf die Straße und demonstrierten für die Rechte aller Tunesier, nicht nur für die der Frauen.

"Ergänzung" statt "Gleichheit"

Radhia Nasraoui, Foto: dpa/picture-alliance
"Die Bürger sind wachsam. Ich glaube nicht, dass sich die Frauen das so einfach gefallen lassen. Sie sind sehr wohl in der Lage, ihre Rechte zu verteidigen", meint die Menschenrechtsaktivistin und Anwältin Radhia Nasraoui.

​​Die ersten Demonstrationen von Frauenorganisationen, die wenige Wochen nach der Flucht Ben Alis die völlige Gleichstellung vor dem Gesetz forderten, sorgten bei den meisten Tunesiern für Verwunderung, schien doch eine ernstzunehmende Gefährdung der Frauenrechte nicht zu bestehen.

Anderthalb Jahre später besteht jedoch tatsächlich Anlass zur Besorgnis: Denn laut Entwurf der neuen Verfassung des nordafrikanischen Landes ist nicht mehr von der "Gleichheit" von Frauen und Männern die Rede, sondern nur noch von gegenseitiger "Ergänzung".

Was war geschehen? Im vergangenen Sommer stritten sich die Abgeordneten der Kommission "Rechte und Freiheiten" der Verfassungsgebenden Versammlung über zwei Gesetzentwürfe. Schließlich erlangte der von der Regierungspartei "Ennahdha" eingebrachte Text für den Artikel 28 mit elf gegen acht Stimmen die Mehrheit. Darin heißt es, der Staat garantiere die Rolle der Frau als "Partnerin des Mannes beim Aufbau der Nation" und die sich ergänzenden Rollen von Mann und Frau innerhalb der Familie. Außerdem verpflichtet sich der Staat zu Chancengleichheit und dem Kampf gegen Gewalt gegen Frauen.

Ein Aufschrei des Protests erfolgte kurz darauf. Für nicht wenige Tunesierinnen und Tunesier war es unvorstellbar, ein individualistisches Gleichheitsverständnis zugunsten einer Definition der Frau in Hinblick auf den Mann, die Familie und die Nation aufzugeben.

Strikt auf Parteilinie

Faycel Nacer, Sprecher von "Ennahdha", windet sich, wenn es darum geht, den Standpunkt seiner Partei zu erklären. Es gäbe eigentlich keinen Unterschied zwischen "Gleichheit" und "komplementärer Rolle" von Mann und Frau, insistiert er. Aufgeben will er den Begriff der Komplementarität trotzdem nicht.

"Die Rolle von Mann und Frau innerhalb der Familie unterscheidet sich von ihren Aufgaben in der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik." Denn die Natur der Familie entspräche nicht den Funktionsweisen gesellschaftlicher Institutionen, glaubt Faycel Nacer. Die höchste Scheidungsrate der arabischen Welt sei ein Beispiel dafür, wie sehr sich die tunesische Familie von ihrer natürlichen Rolle entfernt habe, so der "Ennahda"-Sprecher.

Dass "Ennahdha" mit der Beteiligung von Frauen am politischen Leben kein Problem hat, beweist sie immer wieder. Von der paritätischen Listenbesetzung bei den Wahlen hat die Partei am meisten profitiert – fast alle weiblichen Abgeordneten gehören den Islamisten an. Einige Feministinnen hatten gehofft, sie würden in ihnen Verbündete finden. Doch weit gefehlt. Die meisten weiblichen "Ennahdha"-Mitglieder bleiben strikt auf konservativer Parteilinie, wenn es um Frauenfragen geht.

Proteste gegen Verfassungsänderung in Tunis; Foto: Getty Images
Forderung nach einer "zweiten Revolution": Im vergangenen August protestierten Tausende in Tunesiens Hauptstadt Tunis gegen die islamistische Ennahda-Partei, der sie vorwerfen, die Rechte der Frauen beschneiden zu wollen.

​​Daher müssten die Aktivistinnen weiter für die Rechte der Tunesierinnen kämpfen, meint die Anwältin Radhia Nasraoui. "Von dem Moment an, als wir Parteien hatten, die sich nicht für die völlige Gleichstellung von Mann und Frau einsetzen, müssen wir sagen: Dieser Kampf ist noch nicht gewonnen." Es reiche nicht, eine Frau zu sein, um die Frauenrechte zu verteidigen, meint die bekannte Menschenrechtlerin.

Karima Souid sitzt für "Ettakatol", Koalitionspartner "Ennahdhas" im tunesischen Parlament, bezieht aber immer häufiger offen Stellung gegen die Regierung. Nachdem das Redaktionskomitee, dass den endgültigen Verfassungsentwurf verantwortet, über den im Herbst abgestimmt werden wird, sich für den Begriff Gleichheit ausgesprochen hat, zeigt Souid sich zuversichtlich, dass der umstrittene Artikel 28 nicht in seiner jetzigen Form in der Verfassung stehen wird. Sie fordert, dass gleiche Rechte und Pflichten für Bürgerinnen und Bürger festgesetzt werden. "Es steht außer Frage, die Komplementarität zu akzeptieren. Entschuldigen Sie, aber das wäre doch Irrsinn!"

Viele Lesarten des Personenstandsrechtes

Souid steht mit ihrer Position sicher nicht allein da. Doch gilt das nicht für alle Tunesierinnen. Das von "Ennahdha" verteidigte konservative Gesellschaftsmodell ist für viele Frauen des Mittelmeerstaats Alltag. Die Emanzipation wurde in Tunesien zwar schon Anfang des 20. Jahrhunderts – und vor allem von Männern – vorangetrieben, bevor sie die durch den ersten Präsidenten Habib Bourguiba 1956 institutionalisiert wurde.

Das Personenstandsrecht ("Code du Statut Personnel"), das er damals verabschiedete, ist bis heute das modernste der arabischen Welt und brachte wegweisende Veränderung für die Tunesierinnen auf den Weg. Doch häusliche Gewalt, konservative Familienstrukturen und sexuelle Belästigungen, die außerhalb der besser gestellten Mittelschicht und der Großstädte weit verbreitet sind, konnte auch der Staatsfeminismus Bourguibas und Ben Alis nicht beseitigen.

Der frühere tunesische Staatspräsident Habib Bourguiba; Foto: dpa/picture-alliance
Wegweisende Frauenrechte, von Männern verkündet: Die Emanzipation wurde in Tunesien zwar schon Anfang des 20. Jahrhunderts – und vor allem von Männern – vorangetrieben, bevor sie die durch den ersten Präsidenten Habib Bourguiba, dem Begründer des modernen Tunesien, 1956 institutionalisiert wurde.

​​Nach dem Ende der Diktatur und mit dem Antritt der islamistisch dominierten Regierungskoalition sind diese Phänomene wieder öffentlichkeitstauglich geworden.

1956 legte Bourguiba Wert darauf, alle Artikel des neuen Personenstandsgesetzes religiös zu begründen. Hätte er nicht wichtige Geistliche auf seiner Seite gehabt, hätte er das Projekt nicht umsetzen können. Von absoluter Gleichheit zwischen Männern und Frauen ist auch in der ehemaligen Verfassung keine Rede.

Aus der religiösen Begründung des Personenstandsrechts heraus erklärt sich unter anderem, dass in Tunesien das islamische Erbrecht herrscht. Und das erklärt auch, weshalb "Ennahdha" immer wieder betont, das Personenstandsrecht nicht anzutasten. Denn dieses ist in vielen Fällen offen sowohl für moderne als auch für konservative Interpretation – je nach Auslegung der Justiz. Und so hütet sich auch Faycel Nacer, den Zerfall traditioneller Familienstrukturen und die ansteigende Scheidungsrate direkt auf Bourguibas Reformen zurückzuführen. "Das ist nicht die Schuld der Gesetze, sondern ihres Missbrauchs", sagt er.

Die Anwältin Radhia Nasraoui sieht in den anhaltenden Debatten um die Rolle der Tunesierinnen vor allem ein taktisches Manöver. "Wir sind im Moment in einer Situation, wo sich auch andere Herausforderungen stellen. Die wirtschaftliche Lage ist derzeit sehr schlecht." Ständig die Frauenrechte zu thematisieren, diene vor allem dazu, die Öffentlichkeit von den wesentlichen Fragen der Demokratisierung abzulenken. "Damit will ich nicht sagen, dass die Frauenrechte nicht wichtig sind, aber wir verbringen sehr viel Zeit damit, zu diskutieren, was ein paar Salafisten und einige Mitglieder von 'Ennahdha' sagen."

Für die meisten Tunesier seien die Errungenschaften der Frauen unantastbar, ist die bekannte Menschenrechtlerin überzeugt: "Die Bürger sind wachsam. Ich glaube nicht, dass sich die Frauen das so einfach gefallen lassen. Sie sind sehr wohl in der Lage, ihre Rechte zu verteidigen", so Nasraoui.

Sarah Mersch

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de