Sprengstoff für die gesellschaftlichen Verhältnisse

In Ägypten wurden die politischen Entwicklungen im Europa zwischen den Weltkriegen aufmerksam verfolgt. Aufgrund ihrer rassistischen Grundierung wurden Faschismus und Nationalsozialismus von den meisten intellektuellen Wortführer im Lande jedoch abgelehnt. Von Götz Nordbruch

Von Götz Nordbruch

Im Februar 1933 brachte die ägyptische Tageszeitung al-Ahram eine mehrteilige Serie über den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland. Die Artikel erschienen auf dem Titelblatt, umrahmt von Bildern vom Geburtstag des ägyptischen Kronprinzen Faruq oder dem Besuch der türkischen Schönheitskönigin in Kairo.

Die ägyptische Öffentlichkeit war über die Ereignisse in Europa in den zwanziger und dreißiger Jahren mitunter gut informiert. Berichte über technische Erfindungen und wissenschaftliche Innovationen in Paris, Berlin oder Rom fanden ebenso oft in die diversen Tageszeitungen und Magazine wie Reportagen über aktuelle Trends in Mode und Kunst.

Diese Vertrautheit spiegelte sich auch in den Kommentaren über die politischen Entwicklungen in Europa. Der Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus waren hier genauso Thema wie die Oktoberrevolution in Russland und der Bürgerkrieg in Spanien.

Kolossale gesellschaftliche Umbrüche

Auch im Ägypten der Zwischenkriegszeit ging es um die Neuausrichtung der gesellschaftlichen Ordnung. Seit der Revolution von 1919 gegen die britische Kolonialmacht und der formalen Anerkennung der Unabhängigkeit des Landes 1922 erlebte die ägyptische Öffentlichkeit eine Phase des politischen Pluralismus, in der das Selbstverständnis der Nation genauso zur Diskussion stand wie die Rechte und Pflichten des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, das Verhältnis von Religion und Politik oder die Rolle der Frau in der Gesellschaft.

Quelle: Wikipedia
Politischer Pluralismus als Schutzschild gegen den Faschismus: Nach der Revolution von 1919 entwickelte sich ein politisches Spektrum, das den Parteienlandschaften vieler europäischer Länder in nichts nachstand, schreibt Nordbruch. - Drei Schleier tragende Frauen demonstrieren in Kairo für die nationale Unabhängigkeit Ägyptens

​​Mit dem Entstehen von Bewegungen wie dem nationalistisch gesinnten Wafd, der Muslimbruderschaft und später dem Jungen Ägypten entwickelte sich ein politisches Spektrum, das den Parteienlandschaften vieler europäischer Länder in nichts nachstand. Die politischen Modelle und Bewegungen in Europa erschienen dabei vielen Beobachtern als mögliche Bezugspunkte in den Debatten um die neu zu schaffenden gesellschaftlichen Strukturen.

Intellektuelle wie Muhammad Husayn Haykal, Taha Husayn oder Abbas Mahmud al-Aqqad, die die Debatten in diesen Zeiten des "liberalen Experiments" (Afaf Lutfi al-Sayyid Marsot) maßgeblich prägten, bezogen sich schon während der zwanziger Jahre ausdrücklich auf die Erfahrungen der parlamentarischen Demokratien in Europa. Dabei war ihre Haltung durchaus widersprüchlich.

Während Autoren wie Husayn und Aqqad ihre Bekanntheit dafür nutzten, um angesichts der Etablierung des Faschismus in Italien für die ägyptische Verfassung von 1923 zu werben, verwies Haykal immer wieder auch auf die Erfolge Mussolinis bei der Stabilisierung Italiens in den Krisen der Nachkriegszeit.

Die Warnung vor gesellschaftlicher Anarchie stand im Mittelpunkt von Haykals Argumentationen, die er mit einer scharfen Kritik des ägyptischen Königshauses und der fortwährenden britischen Einflussnahmen verband. Der elitäre Liberalismus, für den Haykal stand, war aus seiner Sicht nicht gleichbedeutend mit einer parlamentarischen Demokratie nach europäischem Vorbild.

Trotz seiner Verteidigung der Verfassung sah er in den Forderungen des national orientierten Wafd-Blocks und anderer Akteure, die für umfassende politische Rechte eintraten, die Gefahr einer Tyrannei der Straße. Für eine Übergangszeit, in der die Bevölkerung auf die Demokratie vorbereitet würde, plädierte er für eine "Reform-Diktatur", die sich auch an den Erfahrungen Italiens orientieren könne.

Verteidigung der Demokratie

In seinem Buch "Absolute Herrschaft im 20. Jahrhundert" hingegen wandte sich Abbas Mahmud al-Aqqad Ende der zwanziger Jahre ausdrücklich gegen eine auch nur vorübergehende Rechtfertigung autoritärer Systeme. Dabei widersprach er der Sichtweise, den demokratischen Gesellschaften in Europa sei es nicht gelungen, die gesellschaftlichen Krisen zu meistern.

"Die Demokratie ist nicht gescheitert, und bis heute deutet alles auf ihren Erfolg hin", schrieb Aqqad mit Blick auf jene Stimmen, die das Ende des Zeitalters der Demokratie heraufbeschworen. "Alles weist darauf hin, dass die Demokratie stabil ist und dass sie auch zukünftig die Grundlage der Herrschaft sein wird, auf deren Prinzipien sich die Regierungen beziehen werden und auf die man sich bei allen anstehenden Reformen berufen wird." Dies galt aus Aqqads Sicht für Europa, aber nicht weniger auch für Ägypten.

Mit der Revolution von 1919 sah er die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaftsordnung gelegt, in der die Rechte des Einzelnen auch gegenüber den Ansprüchen der Gemeinschaft garantiert seien. Diese Errungenschaften galt es gegen die Fürsprecher autoritärer Ordnungen wie in Italien, aber auch in Russland, zu verteidigen.

Politische Analogien

Auffallend war der unmittelbare Bezug dieser Verweise auf Faschismus und Nationalsozialismus zu den Entwicklungen in Ägypten selbst. So waren die Auseinandersetzungen mit dem Faschismus und der Krise der Weimarer Republik zu Beginn der dreißiger Jahre deutlich von der autoritären Politik der Regierung Ismail Sidqis geprägt.

Buchcover; Quelle: ZMO
Der europäische Faschismus zertrampelt die Hoffnungen auf Unabhängigkeit im Nahen Osten: Cover des soeben erschienenen von Götz Nordbruch mitverfassten Bandes "Sympathie und Schrecken"

​​Die Außerkraftsetzung der Verfassung und die massiven Repressionen, die von Sidqi zwischen 1930 und 1933 durchgesetzt wurden, erschienen hier als Parallelen zu den Ereignissen in Europa. Eine Kritik Mussolinis und Hitlers beinhaltet in diesen Jahren immer auch eine Kritik an den politischen Verhältnissen in Ägypten.

Auch die Diskussionen um die nationalistischen Ideologien, die im faschistischen Italien und später im nationalsozialistischen Deutschland Bedeutung gewannen, waren von den Gegebenheiten in Ägypten selbst gezeichnet. Wie kaum ein anderes Thema bewegte die Frage nach den Grundlagen der ägyptischen Nation die Gemüter.

Neben dem Islam und der arabischen Sprache bot auch das pharaonische Erbe einen möglichen Bezugspunkt für die Versuche, die kollektive Identität des Landes zu bestimmen. In diesem Zusammenhang fand auch das Konzept der Rasse Verwendung. So verwies mit Salama Musa ein wichtiger Fürsprecher sozialistischer Ideen auf biologistische Lehren. Aus seiner Sicht bot dabei auch die eugenische Rassenpolitik, wie sie vom Nationalsozialismus betrieben wurde, Ansatzpunkte für ähnliche Maßnahmen in Ägypten.

"Eine moderne Gesellschaft", so behauptete Musa in einer Flugschrift, die Mitte der dreißiger Jahre erschien, erfordere "ein hohes Maß an Intelligenz und Sittlichkeit. Die Nation, die am meisten Intelligenz auf sich vereint, ist dazu bestimmt, anderen überlegen zu sein. Daher kann es sich keine Nation erlauben, die Eugenik zu ignorieren und den Dummen, den Verbrechern und Minderwertigen zu gestatten, sich fortzupflanzen."

Der Nationalsozialismus stand dabei mit seiner Politik keineswegs allein. Für Musa fanden sich ähnliche Ansätze in den USA, in Schweden oder in der Schweiz.

Kritik an deutschem Antisemitismus

Ein solches biologistisches Denken stieß bei vielen Beobachtern auf Ablehnung. Gerade unter Angehörigen der ethnischen und religiösen Minderheiten, aber auch unter liberalen Nationalisten war man besorgt über jegliche Versuche, die Zugehörigkeit zur Nation über Kategorien wie Rasse und Volk zu bestimmen. Entsprechend kritisch vielen die Kommentare in Zeitungen und Magazinen aus, die oft von syrischstämmigen Christen herausgegeben wurden. In diesem Zusammenhang stieß auch die antisemitische Politik in Deutschland auf entschiedene Kritik.

In Tageszeitungen wie al-Muqattam, die zu den führenden Zeitungen des Landes gehörte, waren schon Anfang 1933 deutliche Warnungen vor der antijüdischen Politik zu vernehmen.

Die Monatszeitung al-Hilal, die sich ebenfalls im Besitz von syrisch-libanesischen Einwanderern befand, warnte im Juli 1933 ausdrücklich, es sei Sache des Staates, die Interessen all seine Bürger zu bewahren. "Es ist die Pflicht aller zivilisierten Staaten, ihre Bürger in gleicher Weise zu lieben und sie ohne Diskriminierung hinsichtlich der religiösen Gemeinschaft, der sie angehören, zu beschützen."

Die nationalsozialistischen Rassenlehren – und biologistisches Denken im Allgemeinen – waren aus Sicht dieser Autoren angesichts der ethnischen und konfessionellen Zusammensetzung der ägyptischen Bevölkerung Sprengstoff für die gesellschaftlichen Verhältnisse.

Vorboten vom Expansionismus der Achsenmächte

Mit dem italienischen Angriff auf Abessinien im Oktober 1935 erreichte das Interesse an den Entwicklungen in Europa einen weiteren Höhepunkt. Angesichts der kaum verhüllten territorialen Ambitionen Italiens und Deutschlands sahen sich viele Kritiker der beiden Regime in ihren Warnungen bestätigt. Die deutsche Politik gegenüber seinen Nachbarn und dem Völkerbund waren aus dieser Sicht Vorboten eines Expansionismus, der sich kaum von anderen europäischen Kolonialmächten unterschied.

Quelle: Wikipedia
Unfreiwillige Abschreckungspolitik: Im Hinblick auf den brutalen Feldzug Italiens in Libyen und Äthiopien veranlasste Ägypten, die Kolonialmächte Frankreich und England um Unterstützung zu ersuchen. Im Bild: Italienische Artilleriesoldaten im 2. Italienisch-Äthiopischen Krieg (1936–1936)

​​Die Brutalität, mit der Italien in Libyen und Abessinien gegen die einheimische Bevölkerung vorging, war für viele Beobachter schließlich Grund genug, auch um britische und französische Unterstützung gegen mögliche italienische Ansprüche auf Ägypten zu werben. Die koloniale Politik dieser Staaten erschien ihnen im Vergleich zum Vorgehen Italiens und Deutschlands als das kleinere Übel.

Die Zwischenkriegszeit war geprägt von solchen politischen und intellektuellen Begegnungen mit Europa. Die gesellschaftlichen Umbrüche in der ägyptischen Gesellschaft bildeten dabei den Hintergrund, vor dem sich diese Auseinandersetzungen entwickelten. Aus Sicht mancher Beobachter enthielten Faschismus und Nationalsozialismus insofern durchaus Lehren, auf die sich auch in Ägypten bauen ließ. Nicht weniger prominent waren hingegen jene Stimmen, die entschieden vor dem Einfluss faschistischer und nationalsozialistischer Ideologien warnten.

Eine autoritäre Ordnung bot aus ihrer Sicht keine Lösung für die Konflikte, von denen das politische System Ägypten in diesen Jahren geprägt war. Nicht weniger, sondern mehr politische Freiheiten waren danach erforderlich, um die Demokratie auch langfristig zu sichern.

Götz Nordbruch

© Qantara.de 2011

Götz Nordbruch ist derzeit Assistenzprofessor am Zentrum für Zeitgenössische Studien des Nahen Ostens an der Universität von Süddänemark. Er ist Autor von "Nazism in Syria and Lebanon: the ambivalence of the German option, 1933-1945" (SOAS/Routledge studies on the Middle East: 2009) sowie Koautor des jüngst erschienen Bandes "Sympathie und Schrecken – Begegnungen mit Faschismus und Nationalsozialismus in Ägypten, 1922–1937" (ZMO-Studien 2011).

Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de