EU-Kommission stellt der Türkei wieder schlechtes Zeugnis aus

Schwerwiegende Rückschritte bei Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Justiz - das ist die Quintessenz auch des jüngsten "Fortschrittsberichts" zur Türkei. Eine Aufnahme des Landes in die EU scheint ferner denn je.

Die EU-Kommission schließt einen Beitritt der Türkei weiterhin aus. Die Türkei habe "große Schritte weg von der Europäischen Union gemacht", heißt es in einem Fortschrittsbericht zum Stand der Beitrittsverhandlungen, der den Zeitungen der Funke Mediengruppe und auch der "Welt am Sonntag" vorliegt. Es gebe "gravierende Rückschritte" in den Schlüsselbereichen Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte, Reform der öffentlichen Verwaltung und Meinungsfreiheit. "Unter den derzeit vorherrschenden Umständen wird die Öffnung neuer Verhandlungskapitel nicht in Betracht gezogen", erklärt die Kommission in dem Bericht, der am Dienstag in Straßburg offiziell vorgestellt werden soll.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte Ende März den Wunsch nach einem Beitritt seines Landes in die EU bekräftigt. In dem Fortschrittsbericht wird die Türkei den Angaben nach zwar als "Schlüsselpartner für die EU" genannt und als Beitrittskandidat bestätigt. Aber die Kommission kritisiert vor allem die Maßnahmen, die die türkische Führung nach dem gescheiterten Putsch eingeleitet hat. Sie fordert von der Regierung in Ankara, den seit fast zwei Jahren geltenden Ausnahmezustand ohne Verzögerung aufzuheben.

Der Ausnahmezustand beschneide die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber und greife substanziell in Bürgerrechte und politische Rechte ein, heißt es in dem Bericht weiter. Seit dem Beginn im Juni 2016 seien 150.000 Menschen in Gewahrsam genommen und 78.000 inhaftiert worden, 110.000 Staatsbedienstete seien entlassen worden. Über 150 Journalisten säßen im Gefängnis, zusammen mit Schriftstellern, Menschenrechts-Aktivisten, Anwälten und Abgeordneten. Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten hätten die Unabhängigkeit der Justiz ebenso untergraben wie Verfassungsänderungen, die die Gewaltenteilung schwächten.

Positiv wird in dem Bericht dagegen die Migrationspolitik der Türkei hervorgehoben: In "herausragenden Anstrengungen" versorge die Türkei gegenwärtig mehr als 3,5 Millionen registrierte syrische Flüchtlinge, erklärt die EU-Kommission. Die EU bleibe verpflichtet, der Türkei bei der Bewältigung dieser Herausforderungen zu helfen. Die Kommission bekräftigt den Angaben nach auch ihren Vorschlag, die Zollunion zwischen der EU und der Türkei auszuweiten und zu modernisieren. Lob erteilen die Experten in diesem Zusammenhang auch der türkischen Wirtschaft, die als weit fortgeschritten und funktionierende Marktwirtschaft beschrieben wird.

Die Türkei äußerte unterdessen ihre Bereitschaft dazu, für eine Visa-Liberalisierung mit der Europäischen Union weitere Gesetze zu ändern. "Wir müssen ein paar Änderungen bei einigen Gesetzen durchführen, die wir bereits vorbereitet und vorgeschlagen haben", sagte Faruk Kaymakci, der türkische Botschafter bei der EU. Das könne sehr schnell gehen. Die Aussicht auf eine Visumfreiheit für türkische Staatsbürger in der EU ist Teil des im März 2016 abgeschlossenen Flüchtlingsabkommens zwischen der Regierung in Ankara und Brüssel.

Für die Visa-Liberalisierung muss die Türkei jedoch 72 Kriterien erfüllen. Größter Streitpunkt ist bislang die von der EU geforderte Reform von umstrittenen Terrorgesetzen. Die derzeitigen Gesetze können nach Brüsseler Einschätzung auch zur Verfolgung von Journalisten und Andersdenkenden missbraucht werden. Aus EU-Kreisen hieß es zuletzt, die von Ankara vorgeschlagenen Gesetzesänderungen seien vermutlich nicht ausreichend, um genügend Sicherheit zu haben, dass Journalisten nicht mehr verfolgt werden können. (dpa/Reuters/epd)