Tunesiens neue Herrscher von Gottes Gnaden

Nach Ansicht der renommierten tunesischen Wissenschaftlerin und Intellektuellen Amel Grami droht die zweischneidige Politik der islamistischen "Ennahda" unter Rachid Ghannouchi die tunesische Gesellschaft zu spalten und die Revolution an den Abgrund zu führen.

Von Amel Grami

Schon viele Warnungen vor den Folgen eines Um-sich-Greifens des Phänomens der Gewalt in ihren sämtlichen Ausprägungen – verbaler, physischer und symbolischer Art – sind an die führenden Vertreter und die verschiedenen Gruppen der tunesischen Gesellschaft ergangen. Doch eine Reaktion ist bisher nicht erfolgt.

Die Regierung hat das Thema Sicherheit auf die leichte Schulter genommen und nach immer neuen Rechtfertigungen für das gesucht, was derzeit vor sich geht. Wir wurden sogar Zeuge, wie führende Vertreter der Regierungstroika die Massen zu Kundgebungen und religiösen Zeremonien auf öffentlichen Plätzen mobilisierten. Dabei benutzten sie auch Facebook für ihre Zwecke.

Gewalt als Mittel der Politik

Jetzt ist es schon so weit gekommen, dass Gewalt als Mittel der Politik dient, wie bei den Morden an dem Politiker Lotfi Naguedh und dem couragierten Chokri Belaid.

Die Beerdigung Belaids wurde unüberhörbar von Trauerklagen begleitet, über die Grenzen von Geschlecht, Hautfarbe, Abstammung und Parteizugehörigkeit hinweg. Die aufgeheizte Stimmung ist der tiefen Anteilnahme und dem Mitgefühl gewichen.

Rachid Ghannouchi, Chef der Ennahda in Tunesien; Foto: Reuters
Nach Auffassung Amel Gramis trägt Rachid Ghannouchi mit seiner regierenden "Ennahda" eine wesentliche Mitschuld für die gegenwärtige Krise in Tunesien: "Solange es keine klare Differenzierung zwischen diesen Rollen gibt, und solange der Religionsgelehrte und nicht der Staatsmann am Ruder ist, wird der einzige Erfolg der Ennahda darin bestehen, das Land weiter in die Krise zu ziehen", schreibt Grami.

​​Was aber kommt nach diesem politischen Attentat? Was hat uns die Ermordung Belaids vor Augen geführt und was folgern wir daraus?

Erstens: Wie kann die "Ennahda"-Partei, die de facto in der Regierung das Sagen hat, in Zukunft ein besseres Bild abgeben und für eine Politik eintreten, die die Menschen wirklich überzeugt, anstatt weiterhin einen zweischneidigen Diskurs zu bedienen, indem sie einerseits dem Ausland einen "gemäßigten und modernen Islam" präsentiert, andererseits ihre Agenda mit aller Härte durchzusetzen versucht?

Die derzeitige Situation macht es erforderlich, Fehler einzugestehen und einen Ausweg aus der politischen Instrumentalisierung der Religion zu suchen. Sinnvoll wäre nun die Übernahme moralischer Verantwortung und die Einsicht, dass die "Ennahda" derzeit nicht in der Lage ist, die Mehrheit der Bevölkerung von ihrer angeblich moderaten Politik und "Modernität" ihrer Agenda zu überzeugen.

Was sie vielmehr braucht, sind "Denkwerkstätten", die den bisherigen politischen Kurs einer Prüfung unterziehen und Pläne für die Zukunft entwerfen. Dies sollte nicht mit der Absicht erfolgen, die Hegemonie über den Staat und seine Institutionen zu erringen, sondern am Aufbau des Landes von morgen mitzuwirken – und zwar aus einer Position der Partnerschaft heraus, nicht aus einer Position der Regierungsmehrheit.

Politische Neuorientierung

Die "Ennahda" muss ihren Kurs neu bestimmen, nachdem sich die islamistischen Strömungen jener Länder, die Vorreiter beim Arabischen Frühling waren, als regierungsunfähig erwiesen haben.

Zweitens: Wie kommt Rachid Ghannouchi dazu, sich zu einer dem Staatsgründer Habib Bourguiba ebenbürtigen Führungsgestalt aufschwingen zu wollen, während die Wut der Massen mit jedem Monat immer mehr zunimmt? Den deutlichsten Beweis dafür liefern doch die Parolen, die die Trauerfeiern für den Märtyrer Chokri Belaid begleitet haben: "Ya Ghannouchi ya saffáh, ya qattal al-arwáh!" (etwa: "Ghannouchi, du Mörder!"; Anm. d. Übersetzers).

Wie soll ausgerecht einer wie Ghannouchi die Tunesier einen, der bedenkenlos in der Vergangenheit wühlt? Der den Fall des 1961 ermordeten Salah Ben Youssef wieder aufgerollt und als Mittel zur Rufschädigung des von ihm als Erzfeind betrachteten Bourguiba benutzt hat – so als handelte es sich dabei um das Hemd des Uthman (ein im Arabischen verwendeter Ausdruck, der sich auf das blutdurchtränkte Hemd des ermordeten dritten Kalifen Uthman bezieht, welches anschließend zur Anstachelung seiner Anhänger verwendet worden sein soll; Anm. d. Übersetzers).

Doch schon bald sollte sich diese Taktik gegen ihn wenden, insofern als dass die Verbundenheit der meisten Tunesier mit Bourguiba eher noch zugenommen hat. Man hat seine Reden wiederentdeckt, seine Aussprüche machen die Runde. Manch einer erkennt seine guten Seiten an und zieht Vergleiche zwischen dessen damaliger Vision von einem modernen Nationalstaat und der Situation, in die das Land unter Ghannouchi geraten ist. Der wollte die Vergangenheit entsorgen und Bourguibas Bild in Trümmer schlagen. So hat er aus ihm einen zugleich präsenten und abwesenden Gegenspieler gemacht und Schindluder mit der kollektiven Erinnerung getrieben.

Bewaffnete Polizeieinheiten während der Trauerfeier für den ermordeten Chokri Belaid; Foto. Reuters
Tiefe Gräben: Nach der Ermordung des populären linken Oppositionspolitikers Chokri Belaid hat sich das gesellschaftliche Klima in Tunesien zunehmend verschlechtert.

​​Statt einfach seinen eigenen Weg zu gehen und dabei Bourguiba außen vor zu lassen, hat sich Ghannouchi darauf versteift, die Erinnerung an seinen Gegner auszulöschen. Für ihn ist er ein Störfaktor, kein Baustein im Gefüge des nationalen Gedächtnisses.

Drittens: Wie kann eine Partei mit islamischer Grundierung, die die Bühne unter der Prämisse betreten hat, dass ihre Anhänger "Gott kennen" und deshalb der religiösen Ödnis, welche in Tunesien aufgrund der vorangegangenen Regime geherrscht habe, ein Ende bereiten werden, für Verständigung und Geschlossenheit unter den Tunesiern sorgen, wo diese Partei doch für eine Spaltung der Tunesier in zwei Lager gesorgt hat?

Freiwild der Islamisten

Auf der einen Seite stehen "Ennahda"-Anhänger und Salafisten, auf der anderen Seite "ungläubige Laizisten". Den Pseudopredigern wurde freie Hand gelassen, sich die Moscheen zu Spielwiesen zu machen, Intellektuelle, Künstler und Medienschaffende als Ungläubige zu diffamieren, und Freiheitskämpfer für vogelfrei zu erklären.

"Ennahda"-Parteiführer Rachid Ghannouchi hat die Aktionen der "Ligen zum Schutz der Revolution" gerechtfertigt und sie zum "aktiven Gewissen des Volkes" erklärt. Die Angriffe von Salafisten auf die individuellen und kollektiven Freiheiten wurden von ihm zu Einzelfällen deklariert, welche auf Gruppen zurückgingen, die ihn an seine Jugend erinnerten und aus seiner Sicht eine neue Kultur ankündigten.

Viertens: Wie kann es Präsident Moncef Marzouki noch gelingen, die Tunesier von seiner Politik zu überzeugen und sein Ansehen wieder herzustellen? Er, dem kein Respekt mehr entgegengebracht wird, der für die Facebook-Gemeinde zu einer Witzfigur geworden ist? Die jungen Leute machen sich nur noch über seine Gesichtszüge lustig und posten seine für Lacher sorgenden, wirren Stellungnahmen – so wie unlängst, als er Predigern, die Intellektuelle und religiöse Minderheiten zu Ungläubigen erklärt hatten, Milizen, die das Land kurz und klein schlagen, sowie Salafisten, die den Dschihad propagieren, den Teppich ausgerollt hatte.

Fünftens: Wie kann die regierende Dreiparteien-Koalition die Menschen von dem Sinn und Zweck ihres Fortbestands überzeugen, angesichts einer komplexen politischen Krise und eines Vertrauensverlustes der Tunesier in ihre führenden Vertreter, besonders in die Abgeordneten der Verfassungsgebenden Versammlung, die aufgrund ihrer mangelhaften Arbeit, ihrer Raffgier und ihres leichtfertigen Umgangs mit den Interessen des Landes in die Kritik geraten sind?

Das Schweigen der linken Parteien

Wie kann also eine solch zusammengezimmerte Troika weiterbestehen, wo sie doch für die Hegemonie der "Ennahda" über ihre Koalitionspartner steht, und in ihren Reihen ein ganz klares Ungleichgewicht herrscht? Und wie steht es mit den beiden linken Parteien (der "Republikanischen Kongress-Partei" und der "Ettakatol"), die uns davon überzeugen wollten, sie hätten sich der Troika nur deshalb angeschlossen, um die rechten Kräfte in ihre Schranken zu weisen? Nun, die "Ennahda" hat es geschafft, sich ihre beiden Verbündeten gefügig zu machen.

Sechstens: Wie soll die Verfassung des Landes noch im Geiste des Einvernehmens geschrieben werden, nachdem die Ankündigung des Premierministers, sich gegen den Herrscher von Gottes Gnaden, Herrn Ghannouchi, auflehnen zu wollen, und seine Bemühungen, den Transformationsprozess in Richtung Demokratie zu retten, zu einer komplizierten politischen Krise geführt haben?

Wie soll diese Verfassung zu einer Verfassung für alle Tunesier werden, wo doch das gesellschaftliche Gefüge völlig zerrüttet ist, die Polarisierung immer extremere Ausmaße annimmt, mit Mord und Auslöschung des Gegners gedroht wird, salafistische Gruppen sich überall als Stadtteilwächter aufspielen, "Revolutionsligen" das Land durchstreifen und "Ennahda"-Milizen den Leuten Angst und Schrecken einjagen?

Tunesiens Präsident Moncef Marzouki; Foto: Reuters
Tunesiens Präsident als Witzfigur für die jüngere Generation: "Die jungen Leute machen sich nur noch über seine Gesichtszüge lustig und posten seine für Lacher sorgenden, wirren Stellungnahmen – so wie unlängst, als er Predigern, die Intellektuelle und religiöse Minderheiten zu Ungläubigen erklärt hatten, Milizen, die das Land kurz und klein schlagen, sowie Salafisten, die den Dschihad propagieren, den Teppich ausgerollt hatte."

​​Aus der Lage, in der wir uns befinden, kann es nur dann einen Ausweg geben, wenn wir die Ermordung von Chokri Belaid als einen einschneidenden Moment begreifen, der einen völlig veränderten Blick auf das Eigene und das Fremde notwendig macht, sowie eine neue Art, mit den politischen Gegnern und den unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Gruppen umzugehen.

Von den politischen Akteuren, insbesondere von denen, die an der Regierung sind und Verantwortung tragen für die Gestaltung des Übergangsprozesses, sollten wir eigentlich den Mut und die Fähigkeit erwarten können, dass sie den Tatsachen ins Auge blicken und Klartext reden: Das was kommt, wird sich fundamental von dem was war unterscheiden müssen.

Die Lage erfordert es, Fehler einzugestehen. Deren größter war es, dass die "Ennahda"-Partei dachte, das Land gemäß ihrem Auserwähltheitsglauben führen zu können, demzufolge ihre Anhänger Gott am nächsten, ihre Minister immun gegen Korruption und sie die "großartigste Regierung in der Geschichte" seien.

Nicht der einzige "Ingenieur des Wandels"

Die Zeit ist gekommen, dass diese Partei endlich von ihrem hohen Ross steigt und gemeinsam mit den anderen politischen Akteuren aus einer Haltung der Verantwortung für den Erfolg des Übergangsprozesses heraus zusammenarbeitet. Sie ist nämlich nur einer unter mehreren Partnern beim Aufbau, und nicht der einzige "Ingenieur des Wandels".

Ebenso sollten alle Führungspersönlichkeiten der "Ennahda", die ihre Rollen als Moscheeprediger und als Politiker nicht klar auseinanderhalten können (wie etwa Rachid Ghannouchi, Habib Ellouz, Sadiq Chourou, Noureddine El Khademi u.a.), das Feld der Politik räumen und sich ganz missionarischen oder wohltätigen Zwecken widmen, wenn ihnen der Sinn danach steht.

Während der vergangenen zwei Jahre haben sie ganz offensichtlich in der Art, wie sie sich auf dem Feld der Politik bewegt haben, die Mentalität eines islamischen Rechtsgelehrten erkennen lassen, dessen Adressat die Gemeinschaft der Gläubigen ist, und leider nicht die eines Politikers, der dem "Bürger" verpflichtet ist, ungeachtet seines Geschlechts, seiner Konfession oder seiner Überzeugungen…

Solange es keine klare Differenzierung zwischen diesen Rollen gibt, und solange ein Rechtsgelehrter und kein "Staatsmann" das Ruder in der Hand hat, wird der einzige Erfolg der "Ennahda" darin bestehen, das Land weiter in die Krise zu ziehen und sich selbst sowohl im Inland als auch Ausland zu isolieren.

Dies insbesondere vor dem Hintergrund einer Opposition, die momentan noch dabei ist, ihre Reihe zu schließen, und der es noch an finanziellen Möglichkeiten fehlt, sowie an der Kraft, die Marginalisierten und die Jugend zu mobilisieren, die den Glauben an einen Ausweg aus der Krise verloren haben.

Amel Grami

Übersetzt aus dem Arabischen von Rafael Sanchez

Die Autorin ist Professorin für Gleichberechtigung und interkulturelle Studien an der tunesischen Universität in Manouba.

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de