Legitimation systematischer Diskriminierung

Nach Ansicht der jemenitisch-schweizerischen Politologin Elham Manea bedeutet die Übernahme von Teilen des islamischen Familienrechts in westliche Gesellschaften eine offensichtliche Benachteiligung der Frau.

Von Elham Manea

Jedes Mal, wenn davon die Rede ist, islamisches Recht in das westliche Rechtssystem aufzunehmen, wird von den Befürwortern abgewiegelt, dass dies ja "nur das Familienrecht" berühre. Gerade aber, weil es dabei um das Familienrecht geht, sollten diese Vorstöße abgelehnt werden. Handelt es sich doch um nichts Geringeres als um eine staatliche Absegnung der Diskriminierung von Frauen und Kindern.

Drei Gruppen waren es im Wesentlichen, die bisher für die Integration einzelner Elemente des islamischen Rechts in die Rechtssysteme Europas und Nordamerikas geworben haben.

Zum einen sind hier islamische Organisationen zu nennen, die für eine traditionelle, wenn nicht gar konservative Lesart des Islam stehen; zum zweiten sind es angesehene Personen in Europa und Nordamerika, die ernsthaft interessiert zu sein scheinen an der Integration muslimischer Gemeinschaften in ihren jeweiligen Ländern, welche solcherlei Zugeständnisse in ihren Augen notwendig mache; und schließlich sind es Kreise juristischer Anthropologen, in denen hierüber eine theoretische und intellektuelle Debatte geführt wird.

Islam und rechtlicher Pluralismus

Elham Manea; Foto: privat
Die Politologin und Journalistin Elham Manea hat im vergangenen Jahr das Buch "The Arab State and Women's Rights: The trap of Authoritarian Governance" publiziert.

​​Im Kern der Sache geht es dabei um die Debatte über einen "rechtlichen Pluralismus", der von Jacques Vanderlinden so definiert wird: "die Existenz verschiedener rechtlicher Mechanismen, die innerhalb einer bestimmten Gesellschaft bei identischen Institutionen Anwendung finden".

Die drei Befürworter-Gruppen versuchen die Bedenken der öffentlichen Meinung üblicherweise mit zwei Feststellungen zu zerstreuen: Zum einen würde es, sollten solche Schritte unternommen werden, lediglich familien- und zivilrechtliche Angelegenheiten betreffen; und zum anderen würden solche Schritte in keinem Fall im Widerspruch zu den Prinzipien der Menschenrechte stehen.

Bezüglich dieser Argumenten lassen sich drei Punkte anführen: Erstens lassen sie die problematischen Erfahrungen außer Acht, die in arabischen und islamischen Gesellschaften mit rechtlichem Pluralismus gemacht wurden. Zum anderen wird der Diskurs ignoriert, der in den arabischen und islamischen Gesellschaften zur Anwendung religiöser Gesetze im Familienrecht geführt wird. Und drittens ist es gar nicht möglich, islamisches Recht im Familienbereich anzuwenden und gleichzeitig die Menschenrechte unangetastet zu lassen.

Hegemonie einer muslimischen Elite

Was den ersten Punkt betrifft: Der rechtliche Pluralismus ist ein Erbe der osmanischen Herrschaft. Im osmanischen Reich regelte das Millet-System in Ländern wie Ägypten oder in Regionen wie Groß-Syrien den Status religiöser Minderheiten wie den der Christen, die „anerkannt“ wurden und in relativ autonomen Gemeinschaften organisiert waren.

Jede dieser Gemeinschaften wurde von einem religiösen Führer geleitet, hatte ihre eigenen religiösen Gesetze und Gebräuche. Zugleich wurden in einer jeden auch soziale und administrative Aufgaben selbst übernommen, so auch die Regelung von Heiraten und Scheidungen.

Ein genauerer Blick auf diese osmanische Politik zeigt, dass sie der Hegemonie der sunnitischen Elite über die Nicht-Sunniten und Nicht-Muslime zugute kam und die religiösen, tribalen und konfessionellen Trennlinien intakt ließ.

Es ist sehr aufschlussreich, dass die in dieser Zeit eingeführten Familienrechtssysteme die gesellschaftlichen Trennlinien sehr genau abbildeten. Es waren vor allem drei Elemente, die als kennzeichnend für die Familiengesetze der osmanischen Zeit angesehen werden können:

  1. Die Hegemonie der sunnitischen Rechtsprechung über die der Nicht-Muslime
  2. Die Zersplitterung der Gesellschaft entlang religiöser, tribaler und konfessioneller Linien, da jede Gemeinschaft ihr eigenes Familienrecht hatte
  3. Die Stammesautonomie angesichts tribaler Gewohnheitsrechte – (Arabisch:"al-orf" genannt) –, die auch das Familienleben bestimmen.

Noch immer wird die arabische Region von diesem osmanischen Erbe bestimmt. Und auch die Familiengesetze dieser Gesellschaften spiegeln diese Elemente und Trennlinien bis heute wider.

Hürden für das "Nation-Building"

Islamic Sharia Council in Großbritannien; Foto: DW
Bedenkliche Paralleljustiz: Eine 2009 publizierte Studie zeigt, dass es in Großbritannien bereits 85 Scharia-Gerichte gibt, die auch illegale Entscheide fällen, hauptsächlich, was die Frauenrechte in Familienangelegenheiten betrifft.

​​Außerdem ergaben meine Forschungen, dass der Anwendung des rechtlichen Pluralismus in den heutigen arabischen Staaten sehr wohl eine politische Funktion zukommt. Der rechtliche Pluralismus kommt überall dort zum Zug, wo der Staat darin versagt, seine Bürger – getrennt nach religiösen, tribalen oder konfessionellen Zugehörigkeiten – als gleichwertige Rechtssubjekte zu behandeln.

Meine Untersuchungen zeigten darüber hinaus, dass das System des rechtlichen Pluralismus im Familienrecht nicht nur die Diskriminierung von Frauen aufrechterhielt, sondern auch das Werkzeug war, mit dem die soziale Teilung der arabischen Gesellschaften festgeschrieben wurde.

Es erschwerte nicht nur die Eheschließungen zwischen Sunniten und Schiiten, Christen, Muslimen und Juden, sondern auch die zwischen Angehörigen einflussreicher und weniger einflussreicher Stämme usw. Zugleich hat es in jedem Land den Prozess der Nationenwerdung und die Entwicklung einer nationalen Identität behindert.

Druck auf Minderheiten

Das System diente zugleich der Islamisierung von Gesellschaften, in denen andere religiöse Minderheiten lebten. Einfach ausgedrückt führte die Dominanz des islamischen Rechts in Fällen von familiären Streitigkeiten, bei Erbschaftsfragen und in Vormundschaftsangelegenheiten dazu, dass nach und nach immer mehr Nicht-Muslime zum Islam konvertierten.

So kam etwa dem Verbot gemischter Ehen zwischen einer muslimischen Frau und einem nicht-muslimischen Mann der politische Zweck zu, sicherzustellen, dass nur muslimische Männer als Ehepartner nicht-muslimischer Frauen in Frage kamen, was wiederum zur Folge hatte, dass ihre Kinder automatisch der muslimischen Gemeinschaft angehören.

Nicht-muslimische Frauen ihrerseits können nicht von ihren muslimischen Ehemännern erben, es sei denn, sie treten zum Islam über! Es ist leicht nachzuvollziehen, dass dieses von sehr vielen Frauen auch getan wird.

Islamische Gesetze als Teil des Problems

Ich möchte nun zu meinem zweiten Argument zurückkehren, nach dem die Anwendung der Scharia den kritischen Diskurs zum islamischen Recht und seiner gender-diskriminierenden Anwendung im Bereich des Familienrechts außer Acht lässt, den wir in arabischen und islamischen Gesellschaften beobachten können. Zu betonen ist, dass es sich dabei um einen Diskurs handelt, der bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Ausgang nahm.

Tahar Haddad; Foto: wikipedia
"Innerhalb des arabischen Kontextes war es der Tunesier Tahar Haddad, der als erster darauf hinwies, dass die islamischen Gesetze Teil des Problems seien und ihre Reformierung daher ein Teil der Lösung", schreibt Elham Manea.

​​Viele arabische und islamische Intellektuelle und Autoren, Männer wie Frauen, argumentierten, dass die Emanzipation der Frauen eine Grundbedingung für die Entwicklung ihrer Gesellschaften insgesamt darstellt. Diese Emanzipation kann nicht getrennt werden von den Gesetzen, die ihr Leben bestimmen – insbesondere also die Gesetze im Familienrecht.

Innerhalb des arabischen Kontextes war es der Tunesier Tahar Haddad, der als erster darauf hinwies, dass die islamischen Gesetze Teil des Problems seien und ihre Reformierung daher ein Teil der Lösung.

Mehr als 75 Jahre später, im Jahr 2005, war es der "Arab Human Development Report" mit dem Titel Towards the Rise of Women in the Arab World, der sich mit den Lebensbedingungen der Frauen in arabischen Gesellschaften befasste und der das gleiche Argument anführte.

Viele Frauen, so steht es in diesem Bericht, kämpfen noch immer um eine gerechte Behandlung. Noch immer litten sie unter konservativen Obrigkeiten, diskriminierenden Gesetzen, chauvinistischen männlichen Strukturen in ihrer Umgebung und traditionell eingestellten Verwandten, die ihr ganzes Leben bestimmen: ihre Bestrebungen, Aktivitäten und Lebensweisen.

Islamisches Patriarchat

Vor allem stellt der Report heraus, dass die islamischen Familiengesetze Frauen diskriminieren und deshalb geändert werden sollten. Die Autoren der Studie drücken es so aus:

"Ein Großteil der arabischen Gesetzgebung ist charakterisiert durch eine Geschlechterungerechtigkeit im Familienrecht. Die Auffassung, dass die Männer die Hüter der Frauen sind und diese ihnen deshalb auch zu gehorchen haben, wird durch islamische Schriften gestützt. In der rechtlichen Praxis wurde diese Vorstellung übertragen in Gesetze, die den Männern die finanzielle Versorgung ihrer Frauen auferlegen, von den Frauen dafür Gehorsam gegenüber den Männern verlangen, den Männern aber die alleinige Initiative zur Scheidung zugestehen und schließlich auch Gesetze, die es den Männern erlauben, ihre Frauen zu verstoßen, im Fall einer 'widerruflichen Scheidung' (Arabisch: talaq raj'i)."

Zu beachten ist, dass dieser Bericht von arabischen und muslimischen Forschern und nicht etwa von westlichen Experten verfasst wurde. Diese arabischen Forscher scheuten sich nicht, das Problem beim Namen zu nennen: Die Gesetze, die sich aus dem islamischen Recht ableiten, diskriminieren Frauen innerhalb der Familie.

Menschenrechtsverletzungen unausweichlich

Dies bringt mich zum letzten Punkt, der sich auf einen Nenner bringen lässt: Es ist schlicht nicht möglich, islamisches Recht in das Familienrecht einzubringen, ohne dabei die Menschenrechte zu verletzen.

Islamisches Familienrecht diskriminiert Frauen innerhalb der Familie, und das in allen Fragen der Ehe, der Scheidung, des Sorgerechts für die Kinder, der Mobilität und in allen Erbschaftsangelegenheiten. Schon ein schneller Vergleich zwischen den Bestimmungen des von den Vereinten Nationen beschlossenen "Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau" (CEDAW) und den entsprechenden Bestimmungen im islamischen Recht belegt diese Aussage eindrucksvoll.

Um ein Beispiel zu nennen: Während im CEDAW auf dem freien Willen und den gleichen Rechten von Frauen und Männern beim Eintritt in die Ehe bestanden wird, sieht das islamische Recht des jeweiligen "Hüters" der Frau als Vorbedingung für die Ehe an.

Tatsächlich hat dieser Hüter die Macht, ein noch jungfräuliches Mädchen ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung zu verheiraten (außer nach der hanafitischen Rechtsschule, einer der vier großen islamischen Rechtsschulen); und damit der Ehevertrag einer nicht mehr jungfräulichen Frau rechtlich bindend wird, ist die Zustimmung der Braut und ihres Hüters erforderlich.

Legitimierte Frauendiskriminierung

Vor dem Hintergrund einer solchen Diskrepanz ist vielleicht zu verstehen, warum ich jenen Stimmen, die sich für die Aufnahme islamischen Rechts in die Familiengesetzgebungen Europas und Nordamerikas einsetzen, wenig Sympathie entgegenbringe. Es sind die Konsequenzen solcher Forderungen, die untersucht werden sollten, um zu ermessen, wie gefährlich sie für die Konzepte von Gendergerechtigkeit und Frauen- wie Kinderrechten sein könnten.

Tatsächlich sind es Forderungen nach der Legitimierung einer systematischen Diskriminierung von Frauen und Kindern. Und eine solche Diskriminierung wird ganz sicher nicht zu einer erfolgreichen Integration von Migranten islamischen Glaubens in die westlichen Gesellschaften beitragen.

Stattdessen würde es nur zur Zementierung abgeschlossener Parallelgesellschaften führen, mit zwei Typen von Frauen – westlichen Frauen, die sich des Schutzes durch das staatliche Recht erfreuen, und Frauen von Migranten, denen dies nicht vergönnt ist.

Elham Manea

© Qantara.de 2012

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de