Ein bisschen Frühling - Tunesiens Demokratie auf der Kippe

Seit einigen Wochen grummelt es im Süden und im armen Landesinneren Tunesiens. Vor allem junge Männer warten bislang vergeblich darauf, dass sich die Revolution von 2011 für sie auch wirtschaftlich endlich auszahlt.

Der lebenswichtige Tourismus in Tunesien nimmt nach den islamistischen Terroranschlägen von 2015 ganz allmählich wieder an Fahrt auf - um den Preis eines sehr großen, allgegenwärtigen Polizeiaufgebots. An Straßenecken, vor Hotels und beliebten Bars, am Meer und vor Kulturdenkmälern. Bestens bewacht, aber noch mit viel Platz an der Strandterrasse. "2017 wird das Schicksalsjahr - hopp oder top", so sagen sie hier zwischen Hoffen und Bangen.

Tunesien: das kleine Land, in dem der "Arabische Frühling" von 2011 bislang am meisten nachhaltige Früchte getragen hat. Der Weg ist allerdings noch weit und dornig. Allenthalben sind noch eine mangelnde Identifikation mit dem Staat und nur wenig Vertrauen in die Demokratie zu beobachten. Anders als bei den werktätigen Frauen wird bei den jungen Männern der Anspruch auf Arbeit stärker empfunden als die Verpflichtung zu Gegenleistung. Die Wahlbeteiligung bei Alten und Analphabeten war zuletzt deutlich größer als unter der jungen Bevölkerung.

Dabei scheint das 11,3-Millionen-Einwohner-Land - bei allen Schwierigkeiten der vergangenen Jahre und Jahrzehnte - einige Glückfälle auf sich zu vereinigen, die das Experiment Demokratie zumindest ermöglichen. So setzte der laizistische Staatsgründer  Habib Bourguiba (1903-2000) bereits 1959 eine weitgehende rechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen durch - als erstes Land in der Arabischen Welt.

Zudem, so heißt es unter politischen Beobachtern, bleibt das kleine Land ohne nennenswerte Bodenschätze und politisches Gewicht vielfach unterhalb des Radars der großen islamischen und islamistischen Brüder. Soll heißen: Seine demokratischen Gehversuche und leidlich liberalen Errungenschaften werden nicht als Gefahr oder Unterwanderung für die Prinzipien des Islam gewertet. Und ein drittes: Die tunesische Armee versteht sich traditionell als unpolitisch und ist im Durchschnitt deutlich höher gebildet als in Nachbarländern. So weigerte sich etwa der damalige Oberbefehlshaber während der Unruhen des "Arabischen Frühlings", dem Diktator Zine el-Abidine Ben Ali den Rücken freizuschießen.

Die Bewährung wird der jungen Demokratie jedoch wohl immer wieder neu bevorstehen. Tatsächlich fehlt es den Parteien im Land noch vielfach an Programmatik und Disziplin; dafür herrscht ein Übermaß an Individualismus und Führungsansprüchen. Einzige Ausnahme: die unter Langzeitdiktator Ben Ali verbotene islamische Ennahda-Partei. Sie hatte sich im Exil organisieren können, auch wenn viele Mitglieder teils über Jahre in Haft saßen. Bei den ersten freien Wahlen 2011 erhielt die Ennahda, eine Verbündete der ägyptischen Muslimbruderschaft, eine komfortable Mehrheit.

Auch wenn die Partei behutsamer vorging als die Muslimbrüder in Ägypten, versuchte sie in den Folgejahren eine schleichende Islamisierung: durch politischere Predigten in den Moscheen, aber auch durch Niederhalten von Opposition oder etwa subtilen Druck auf unverschleierte Frauen. Im Januar 2014 musste die Regierung von Ministerpräsident Ali Larayedh auf öffentlichen Druck zurücktreten.

Larayedh, selbst 17 Jahre im Gefängnis, davon 7 Jahre in Einzelhaft, lehnte jede Beteiligung von Personen oder Parteien ab, die unter Ben Ali aktiv waren. Dabei spielte er 2012 selbst eine Rolle bei gewaltsamen Polizeieinsätzen gegen Demonstranten - die noch juristisch untersucht wird.

Beim Gespräch in der Ennahdah-Zentrale gibt sich Larayedh gemäßigt. Seine Partei wolle als eine Kraft unter anderen zum Aufbau der Gesellschaft und zu einer Balance zwischen Pluralismus und den traditionellen Werten des Islam beitragen. Die Ennahda stellt in der aktuellen Regierung drei Minister. In der Bevölkerung stößt ihr versöhnlicher Ton freilich auf Skepsis. "Der Wolf hat nur Kreide gefressen", argwöhnen viele.

Der neue, laizistische Religionsminister Ahmed Adhoum, ein erfahrener Jurist, hat keinen leichten Posten übernommen. Das Budget des Ministeriums ist winzig, die Erwartungen an die Eindämmung eines politischen Islam sehr hoch. Seine Ennahda-Vorgänger haben diesbezüglich viel Misstrauen in der Bevölkerung hinterlassen; Adhoum spricht von "Jahren der Abwesenheit des Staates". Sein ebenfalls laizistischer Vorgänger musste zu Jahresbeginn gehen, weil er sich öffentlich gegen salafistische Prediger gewandt hatte. Diplomatische Verstimmungen Saudi-Arabiens folgten.

Der Leiter der deutschen Hanns-Seidel-Stiftung in Tunis, Said AlDailami, beobachtet, wie bei vielen gemäßigten Muslimen auf Unverständnis stößt, dass sich der Westen in der Arabischen Welt strategisch ausgerechnet auf die Saudis stütze - obwohl diese von allen das rückständigste Islam-Verständnis propagierten und den Salafismus unterstützten.

Angesichts eigener wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit würden westliche Werte in den Transformationsstaaten zunehmend als ausgehöhlt empfunden. Zudem mache der Westen den Fehler, so AlDailami, islamische Parteien grundsätzlich nicht als Verhandlungspartner zu akzeptieren. Damit bediene er alte Klischees und koppele viele Muslime vom Prozess einer Demokratisierung ab. Tunesien sei ein gutes Beispiel dafür, dass politische Kompromisse auch mit traditionellen Muslimen zu machen seien. Dieser Prozess brauche aber Zeit.

Wie viel Zeit angesichts so vieler Krisenherde und brennender Fragen weltweit dem für eine Adaption des politischen Islam an das 21. Jahrhundert bleiben, ist dahingestellt. Zudem birgt ein Laissez-faire die Gefahr von Radikalisierungen oder Verfassungsänderungen arabischer Demokratien auf dem Mehrheitswege.

Der deutsche Botschafter in Tunis, Andreas Reinicke, hält ein Kreditvolumen bzw. Bürgschaften für konkrete Projekte von einer Milliarde Euro für Tunesien allemal für gerechtfertigt: "Das gibt Deutschland die Chance, einen Partnerstaat im Norden Afrikas zur Demokratie zu ermutigen und zu ertüchtigen." Einstweilen muss, wer einen jungen Tunesier beim Überfahren einer roten Ampel anspricht, immer noch die Antwort gewärtigen: "Wieso? Wir haben doch jetzt Demokratie..." (KNA)

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