Der "Krieg der Anderen"

Zum ersten Mal seit dem Bundeswehr-Luftangriff im September 2009 zeigt mit "Generation Kunduz" ein Dokumentarfilm die Lebensrealität der Menschen in der Provinz Kunduz. Von Marian Brehmer

Von Marian Brehmer

Ins Bild tritt der kleine Mirwais, der als Schuhputzer in den Straßen von Kunduz arbeitet. Wir folgen dem Zehnjährigen durch den Verkehr seiner Stadt, von der wir nur die Schlagzeilen kennen. Mirwais wird zu unserem Guide und Transformator zugleich: Er wandelt unseren von der Kriegsberichterstattung gerahmten Blick um. Wir lernen die Perspektive eines Kindes kennen.

Mirwais erklärt uns einen Krieg, den viele längst nicht mehr verstehen. Fast so selbstverständlich wie ein politischer Kommentator erzählt der Junge von Flugzeugen, Toten und von "der NATO oder so". Für das Kind, das nur wenig Kind sein darf, tobt da draußen ein "Krieg der Anderen" – so lautet der Untertitel des Films von Martin Gerner.

"Ich habe das allerbanalste getan was es gibt", sagt Regisseur Martin Gerner über seinen Film. "Ich bin zu den Menschen hingefahren." Die Stärke von Gerners Film liegt in seiner Zurückhaltung: Es wird nicht bewertet und nicht kommentiert. Die Protagonisten stehen für sich, nehmen allen Raum ein. Ihre Vorstellungen und Wünsche sind es, die sich als roter Faden durch den Film ziehen.

Aus "der Objekt- in die Subjektperspektive"

Mirwais in einer Filmszene in
Wird durch den Film aus der Objekt- in die Subjektperspektive gerückt: Mirwais in Martin Gerners "Generation Kunduz"

​​Für Martin Gerner rücken die Afghanen auf diese Weise aus "der Objekt- in die Subjektperspektive". Das gelingt wunderbar: Da sind zum Beispiel die junge Radiomacherin, die von Fortschritten bei den Frauenrechten erzählt, und der Student Hasib, der in Kunduz als freiwilliger Wahlbeobachter arbeitet.

Hasib klagt beim Frühstück über den Preisanstieg und die rasant gestiegene Arbeitslosigkeit. Und das, obwohl Millionen ausländische Euro ins Land geflossen seien. In der nächsten Szene outet sich Hasib als Fan von Jackie Chan. Der, meint Hasib, kämpfe schließlich mit allem was er findet, auch mit Löffeln. Diese scheinbare Belanglosigkeit macht vor unseren Augen aus dem jungen Afghanen das was er ist: einen Menschen, der genauso begeistert einen Kampfkünstler anhimmelt wie es auch ein deutscher Filmfan tun könnte. Hasib ist eben nicht nur ein Afghane, der an der Frontlinie der Bundeswehr lebt.

Dann die Szene im Auto. Hasib berichtet von den rasenden NATO-Fahrzeugen, die manchmal Wagen rammen und Angst in der Bevölkerung auslösen können. Der Krieg ist immer wieder Gesprächsthema, rückt immer wieder in greifbare Nähe. Gerner versteht es, dem Zuschauer das Spannungsverhältnis von Normalität und Konflikt im Leben seiner Protagonisten zu vermitteln.

​​So auch bei Ghulam und Khatera: Die beiden drehen inmitten des Krieges einen Spielfilm. Ghulam will der Welt zeigen, dass es in Kunduz jungen Menschen gelingt, einen Film auf die Beine zu stellen. Khatera musste gegen den Widerstand ihrer Familie ankämpfen, nur um sich den Platz hinter der Kamera zu sichern. In dem Spielfilm geht es um die großen Themen Familie und Liebe.

Einblicke in die afghanische Psyche

Ein gutes Stichwort. An einer der intimsten Stellen von "Generation Kunduz" spricht Khatera mit dem Regisseur über die Schwierigkeit einer jungen Frau, in Afghanistan einen Partner zu finden. Sie lächelt verlegen: "Zur Zeit ist es kaum möglich zu wissen, wer die Menschen wirklich sind. Es ist schwer, anderen zu vertrauen. In den letzten dreißig Jahren wurde jeder, der das getan hat, enttäuscht. Deshalb gibt es kein Vertrauen mehr." Wenn wir einmal annehmen, es gäbe so etwas wie eine afghanische Psyche, dann gibt uns Khatera einen wunderbaren Einblick dort hinein.

Jeder der in Afghanistan recherchiert hat weiß wie schwer es ist, Frauen vor laufender Kamera zu interviewen. In einer anderen Szene porträtiert Gerner Polizistinnen. Er fragt die Frauen auf Dari, ob sie auch Waffen trügen. Nein, antwortet eine Beamtin, wenn etwas passiere, würde es sie als Polizistinnen als erstes treffen. Später darf Gerner sogar zu einer von ihnen nachhause fahren.

Für Martin Gerner ist Afghanistan kein Neuland. Seit 2004 berichtet er als freier Radiojournalist vom Hindukusch und hat sich als Medientrainer am Aufbau des afghanischen Journalismus beteiligt. Durch Kenntnis der Landessprachen hat er bei seinen Protagonisten einen großen Vertrauensvorschuss. Bereitwillig öffnen die Porträtierten ihm ihre Lebenswelten. Das ermöglicht Gerner einen Blick wie ihn in Afghanistan nur die allerwenigsten ausländischen Journalisten haben.

Regisseur Martin Gerner; Foto: privat
"Ich habe das allerbanalste getan was es gibt": Statt zu bewerten oder zu kommentieren, lässt Regisseur Martin Gerner die Protagonisten seines Filmes für sich sprechen.

​​Auch Rückschläge werden dokumentiert: Die junge Radiomoderatorin will nicht mehr mit dem Regisseur sprechen, weil der Verlobte es ihr verbietet. Kurz davor hatte sie noch kritisiert, dass die Rechtsprechung in Afghanistan von Männern dominiert wird.

Auf der einen Seite stehen die Dynamik und Lebendigkeit der jungen Menschen. Aber in die Zuversicht mischt sich immer wieder die bittere Realität in einem geschundenen Land. Mit genau dieser Mischung aus Hoffnung und Hoffnungslosigkeit wird der Zuschauer entlassen – und kommt damit der Realität in Afghanistan näher als jedes eingebettete Fernsehfeature vom Hindukusch.

 

Marian Brehmer

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de