Kleinster gemeinsamer Nenner

Die syrische Opposition muss beginnen, die Grundlagen für eine neue Ordnung zu legen, die auf Einheit und Zusammenarbeit beruhen. Andernfalls werden kleinere Gruppen bewaffneter Militanter – unterstützt oder sogar manipuliert von externen Akteuren – Syriens Zukunft diktieren, meint Volker Perthes.

Von Volker Perthes

Der syrischen Opposition angehörende Aktivisten äußern regelmäßig Enttäuschung über den Grad an internationaler Unterstützung, den sie erhalten. Obwohl das letzte Treffen der sogenannten "Freunde Syriens" (einer Gruppe von Ländern, die regelmäßig zusammenkommt, um die Lage in Syrien außerhalb des UN-Sicherheitsrates zu diskutieren) mehr Finanzhilfe brachte, bleibt das Maß an echtem externen Engagement für ihre Sache fragwürdig.

Die Vereinigten Staaten, die Europäische Union, die Türkei und die meisten arabischen Länder stimmen überein, dass das Regime des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad nicht länger über Legitimität verfügt. Sie haben die Sanktionen gegen die Regierung verschärft und oppositionellen Gruppen Unterstützung unterschiedlicher Art gewährt.

Einige Staaten haben automatische Waffen, Munition und Panzerfäuste geliefert. Doch die Waffenlieferungen sind versiegt, und das Flehen der Rebellen nach Luftabwehrwaffen bleibt unerfüllt.

Allein gegen das Assad-Regime

Proteste gegen das Assad-Regime in Idlib; Foto: AP
Zerstritten und ohne Aussicht auf internationale Intervention: "Syriens Oppositionsgruppen haben das Gefühl, im Kampf gegen Assads brutales Regime allein gelassen worden zu sein"

​​Zudem sind weder Syriens Nachbarn noch der Westen zu einer Militärintervention bereit. Tatsächlich weigern sie sich bisher trotz aller Solidaritätsbekundungen, an der Grenze zu den Nachbarländern eine Schutzzone für syrische Zivilisten einzurichten oder eine Flugverbotszone gegen syrische Kampfflugzeuge zu verhängen. Die syrischen Oppositionsgruppen haben daher das Gefühl, im Kampf gegen Assads brutales Regime allein gelassen worden zu sein.

Doch müssen die syrischen Oppositionellen erkennen, dass das Ausbleiben entschlossener internationaler Maßnahmen nicht allein darauf gründet, dass Russland und China im Sicherheitsrat jede sinnvolle Aktion mit ihrem Veto belegen oder dass die NATO-Länder nicht bereit sind, sich an einem weiteren Krieg in der Region zu beteiligen.

So wie die Opposition auf die internationale Gemeinschaft wartet, wartet die internationale Gemeinschaft darauf, dass sich die desorganisierte syrische Opposition in eine in sich geschlossene, effektive Kraft verwandelt. Dies erfordert die Bildung einer gemeinsamen Plattform, in der alle relevanten Gruppen vertreten sind, einschließlich der Lokalen Koordinationskomitees, der Syrischen Revolutionskoordinatoren-Union und der Militärräte der Freien Syrischen Armee.

Zwar haben die Rebellen gewisse Fortschritte erzielt. Sie haben vier regionale Militärräte gebildet, die zur Konsolidierung ihrer Führung und zur Stärkung ihrer Kontrolle über weite Teile des Landes, insbesondere in Nähe der türkischen Grenze, beigetragen haben.

Keine geeinte Opposition

Doch die syrische Opposition hat es bisher nicht geschafft, sich als ein geeinigter Faktor darzustellen. Dies erstaunt angesichts der Tatsache, dass hochangesehene, einflussreiche Persönlichkeiten und politische Parteien bei internationalen Zusammentreffen für die Opposition eintreten.

Der ehemalige Vorsitzende des Syrischen Nationalrats, Burhan Ghalioun; Foto: AP
Am Pranger der Opposition: Burhan Ghalioun war Ende Mai 2012 von seinem Posten als Vorsitzender des Syrischen Nationalrates (SNC) zurückgetreten, nachdem es immer wieder Kritik an seinem Führungsstil gegeben hatte. Der SNC ist die größte Oppositionsgruppe Syriens.

​​Der Syrische Nationalrat (SNC) etwa umfasst viele derartige Persönlichkeiten und hat es geschafft, materielle Unterstützung aus mehreren Ländern zu erhalten. Doch bindet er nicht genügend breite Kreise ein, um als alleiniger Vertreter der syrischen Opposition zu dienen. Versuche einer Ausweitung des SNC sind bisher an den Vorbehalten einiger wichtiger Gruppen wie dem Demokratischen Forum gescheitert, einer Organisation beizutreten, die von ausländischen Sponsoren abhängig ist.

Die syrische Opposition muss eine Dachorganisation einrichten, die von allen, und d.h. auch den faktischen zivilen und militärischen Führern, die in den letzten anderthalb Jahren hervorgetreten sind, akzeptiert werden. Diese Gruppen teilen bereits ein gemeinsames Ziel – den Sturz des Assad-Regimes – und von ein paar ultramilitanten Ausnahmen abgesehen hoffen die meisten, einen friedlichen, alle Gruppen einschließenden, demokratischen Staat zu errichten.

Einflussreiche Oppositionelle wie der ehemalige Parlamentsabgeordnete und politische Gefangene Riad Seif und der frühere SNC-Führer Burhan Ghalioun haben vielversprechende Strategien zur Bildung einer derartigen Dachorganisation vorgeschlagen. So könnte etwa eine "Gruppe weiser Personen", die keine politischen Stellungen anstreben, die Bildung eines Übergangsrates überwachen, der alle relevanten politischen Gruppen und Bündnisse, die Militärräte, Wirtschaftskreise und religiöse Führer umfasst.

Doch diese Pläne wurden aufgrund des Fehlens einer Kultur der Zusammenarbeit nicht realisiert. Da die Syrer in einem zutiefst autoritären System sozialisiert wurden, fehlt es selbst jenen, die für ein demokratisches System kämpfen, an Erfahrung in der Kunst, Koalitionen zu bilden.

Zudem hatten potenzielle Politiker nie Gelegenheit, ihre Popularität wirklich im demokratischen Wettstreit zu testen. Daher überschätzen nicht wenige ihren tatsächlichen Einfluss und neigen dazu, um Führungsrollen zu streiten, statt miteinander zu kooperieren.

Eine zivile und politische Revolution

Volker Perthes; Foto: picture-alliance/dpa
"Die Führer der syrischen Opposition brauchen ihre Differenzen nicht unter den Teppich zu kehren, um die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft zu gewinnen. Sie müssen lediglich ein gemeinsames Gremium schaffen, das alle relevanten Gruppen vor Ort akzeptieren können", meint Volker Perthes.

​​Die Führer der syrischen Opposition brauchen ihre politischen Differenzen nicht unter den Teppich zu kehren, um die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft zu gewinnen. Sie müssen lediglich ein gemeinsames Gremium schaffen, das alle relevanten Gruppen vor Ort akzeptieren können, so wie es die libysche Opposition tat, als sie ihren Nationalen Übergangsrat einrichtete.

Danach sollten sie eine legitime Autorität innerhalb Syriens einrichten, die die befreiten Gebiete verwalten, Hilfsmittel verteilen und Dienstleistungen für die Zivilbevölkerung anbieten kann. Eine derartige Übergangsinstanz könnte sich leichter an die internationale Gemeinschaft wenden, um benötigte Unterstützung zu erhalten, als eine Rebellengruppe im Exil.

Die syrische Revolution ist im Wesentlichen eine zivile und politische Rebellion gegen die Diktatur – eine, die Assads Regime allmählich zur Auflösung bringt. Die Opposition muss beginnen, die Grundlagen für eine neue Ordnung zu legen, die auf Einheit und Zusammenarbeit beruhen. Andernfalls werden kleinere Gruppen bewaffneter Militanter – unterstützt oder sogar manipuliert von externen Akteuren – Syriens Zukunft diktieren.

Volker Perthes

© Project Syndicate 2012

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Volker Perthes ist Nahostexperte und Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de