Kampf um Deutungshoheit

Das umstrittene Verfassungsreferendum stellt nicht nur eine politische Weichenstellung für den ägyptischen Staat dar. Es geht auch darum, welchen Stellenwert die Scharia künftig im Rechtssystem des Landes einnehmen soll. Eine Analyse von Niklas Hünseler

Ägyptens Präsident Anwar al-Sadat vollzog in den siebziger Jahren eine Annäherung an die islamistischen Bewegungen, um die linken, nasseristischen Bewegungen, die seinen Machtanspruch nicht akzeptierten, zu schwächen.

Auch der islamische Charakter Ägyptens wurde insgesamt forciert. So erklärt Artikel 2 der ägyptischen Verfassung von 1971, dass "die Prinzipien der Scharia (...) eine Hauptquelle der Gesetzgebung" sind. 1980 erfolgte dann eine Änderung des Artikels. Die "Prinzipien der Scharia" waren fortan nicht mehr nur eine, sondern die Hauptquelle der Gesetzgebung.

Ägyptens Präsident Anwar al-Sadat; Foto: AP
Korrektiv-Revolution und Aufwertung der Islamisten: Um sich der altnasseristischen Clique im monolithischen Herrschaftsapparat und der "unbequemen Linken" zu entledigen, unterstützte Sadat den Aufbau einer islamistischen Bewegung. Die Prinzipien der Scharia wurden zu einer Hauptquelle der Gesetzgebung erhoben.

​​Der Ausdruck "Prinzipien der Scharia" ist weder im Koran noch in der Sunna enthalten. Das ägyptische Oberste Verfassungsgericht hat diesen Terminus schließlich mit Bedeutungsgehalt gefüllt. "Prinzipien der Scharia", so das Verfassungsgericht unter Mubarak, seien als vollkommen eindeutige und glaubwürdig verbürgte Regeln des islamischen Rechts zu verstehen, die von der großen Mehrheit der islamischen Juristen über einen langen Zeitraum akzeptiert worden sind.

Regeln dieser Kategorie machen jedoch nur ein Bruchstück aller in Koran und Sunna vorhandenen Regeln aus und sind meist sehr allgemein gehalten. Parallel dazu deutete das Verfassungsgericht "Prinzipien" als (ethische) Ziele der Scharia, die sich auf allgemeine und abstrakte Normen wie Schutz von Vermögen, Leben, Religion, Wahrung von Gerechtigkeit usw. beschränken. Auf dieser Basis war es möglich, die "Prinzipien der Scharia" in Einklang mit internationalen Menschenrechtskonventionen zu bringen.

Keine Abkehr von der Scharia als Hauptquelle in Sicht

Der Sturz Mubaraks im Februar 2011 hat den Weg für eine neue Verfassung geebnet. Das durch die Muslimbruderschaft und die salafistische "Hizb al-Nour" ("Partei des Lichts") dominierte Parlament (zusammen kommen sie auf 65 Prozent der Stimmen) hat diese Aufgabe an eine Verfassungsgebende Versammlung delegiert, die ebenfalls mit großer Mehrheit von Islamisten besetzt ist.

Während die tunesisch-islamistische "En-Nahda"-Partei auf Druck liberaler Kräfte von dem Vorhaben Abstand genommen hat, in der neuen tunesischen Verfassung Bezug auf die Scharia als Quelle der Gesetzgebung zu nehmen, sieht die Lage in Ägypten anders aus.

Da die ägyptische Gesellschaft insgesamt konservativer geprägt ist, kann es sich keine politische Kraft leisten, eine Abkehr von der Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung zu fordern. Bekannte Gesichter der liberalen Opposition wie Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei, Hamdeen Sabahi und auch der ehemalige Außenminister unter Mubarak und Vorsitzende der Arabischen-Liga Amr Moussa haben sich alle für den Verbleib von Artikel 2 in der Form von 1980 ausgesprochen.

Selbst der Anfang dieses Jahres gestorbene Patriarch der koptischen Kirche, Schenuda III. von Alexandrien, plädierte für die Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung und entließ den Sprecher der Kirche, Anba Morcos, nachdem dieser öffentlich die Streichung von Artikel 2 gefordert hatte.

Papst Shenuda III.; Foto: AP
Unerwartete Rückendeckung für die Anhänger der Scharia: Der im letzten März verstorbene Papst Schenuda III. plädierte für die Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung.

​​Die ägyptischen Kirchen drängten allerdings darauf, die Verfassung um einen Artikel zu erweitern, der besagt, dass sich Christen und Juden bezüglich des Personalstatuts, sowie religiöser Angelegenheiten an ihren eigenen religiösen Vorschriften orientieren dürfen. Diesem Wunsch ist die Verfassungsgebende Versammlung mit Artikel 3 nachgekommen.

Welche Lesart, welches Verständnis?

In Ägypten geht es nicht um die Frage "Scharia ja oder nein?". Die verschiedenen Kräfte des politischen Spektrums streiten vielmehr darum, wie viel Scharia und welches Verständnis des Rechtssystems in der neuen Verfassung gelten soll.

Die salafistische "Hizb al-Nour" hat heftig gegen den Artikel 2 der Verfassung protestiert und gar damit gedroht, die Verfassung als unislamisch zu brandmarken, wenn man nicht von der Formulierung "Prinzipien" abrücke.

Die Partei lehnt die Interpretation des Obersten Verfassungsgerichts ab, das die "Prinzipien der Scharia" auf die (ethischen) Ziele und die sehr wenigen, eindeutigen und glaubwürdig verbürgten Regeln des Islam beschränkt hatte, da man alle Regeln des Koran und der Sunna, welche nicht in diese Kategorie fallen, unzulässigerweise als Basis der Gesetzgebung ausschließe. So führe das Urteil des Verfassungsgerichts dazu, dass die Mehrzahl der Regeln der Scharia weder im Bereich der Wirtschaft und Politik noch dem Strafrecht implementiert seien.

Die Forderung der "Hizb al-Nour", die "Prinzipien" zu streichen und die Scharia als Ganzes zur Basis der Gesetzgebung zu machen, hat zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen der Partei und der Al-Azhar-Universität geführt, die in der sunnitisch-arabischen Welt den Ruf einer autoritativen Instanz genießt.

Die Al-Azhar, die sich für die Formulierung "Prinzipien der Scharia" ausgesprochen hatte, warf der "Hizb al-Nour" ein mangelhaftes Verständnis der Scharia vor. Younis Makhyoun, einer der Hardliner innerhalb der "Hizb al-Nour", beschuldigte die Al-Azhar dagegen, nicht ernsthaft an der Implementation der Scharia interessiert zu sein.

Der Druck der radikalen Islamisten

Führende Mitglieder der radikal-islamistischen "Gama'a al-Islamiyya", die offiziell dem bewaffneten Kampf abgeschworen hat, und nach dem Sturz Mubaraks mit der "Partei für Aufbau und Entwicklung" im Parlament vertreten ist, fordern gar die Scharia zur einzigen Quelle der Gesetzgebung zu machen, also jeglichen außerislamischen Einfluss auszuschließen. Mohammed Salah, Führer der "Gama'a al-Islamiyya" drohte gar, man werde "für die Anwendung der Scharia kämpfen, selbst wenn dies Blutvergießen erfordere".

Die Muslimbruderschaft und die aus ihr hervorgegangene "Freiheits- und Gerechtigkeitspartei" allerdings, haben ihr Einverständnis mit der Formulierung des Artikel 2 seit Beginn der Diskussion bekundet. Generell, so der Tenor, erlaube die gegenwärtige Lage keine Änderung des Artikels. Scheich Abd al-Khaliq Scharif, Führungsmitglied der Muslimbrüder, ergänzte aber, dass die "Prinzipien der Scharia" seinem Verständnis nach durchaus (alle) Regeln der Scharia umfassen würden.

Darüber hinaus plädierte Mohammad Gab-Allah, Berater Mursis, dafür, die "Prinzipien der Scharia" in der Verfassung präziser zu definieren und festzulegen, dass diese auch die weitgefassten Abhandlungen der fünf (sic) sunnitischen Rechtschulen ("Fiqh") umfassen.

Plakat mit dem Bild Farid Alis, dem Kandidaten der Al-Nour-Partei bei den letzten Parlamentswahlen in Ägypten; Foto: dapd
Kompromisslose Salafisten: Die islamistischen Hardliner der "Al-Nour"-Partei insistieren darauf, dass Artikel 2 der Verfassung von 1971 in dem Sinn zu verschärfen sei, dass nicht wie bisher die Grundsätze der Scharia, sondern dass die Scharia selbst die Hauptquelle der Gesetzgebung sein sollte.

​​Die gleiche Forderung war bereits vorher von der "Hizb al-Nour" erhoben worden, welche sich bereit erklärt hatte, die Formulierung "Prinzipien der Scharia" zu akzeptieren, sofern die "Prinzipien" in der Verfassung auch als die Abhandlungen der vier sunnitischen Rechtsschulen definiert werden würden. Der Bezug auf die Abhandlungen der Rechtschulen war von moderaten Rechtsgelehrten wie Abd al-Ma'ti Biyoumi und Teilen der Azhar abgelehnt worden. Biyoumi warnte, das Vorhaben führe zu unnötiger Beschränkung in der Gesetzgebung und geistiger Erstarrung.

Die Verfassung, über die gegenwärtig in einem Referendum entschieden wird, enthält auf Drängen fundamentalistischer Kreise neben Artikel 2 einen neuen Artikel, der die "Prinzipien der Scharia" näher definiert. Artikel 219 besagt, dass "Prinzipien" sowohl die fundamentalen Normen, die Grundlagen der islamischen Rechtswissenschaft sowie die gemeinhin anerkannten Rechtsquellen der sunnitischen Orthodoxie umfassen.

Verschwommene Grenzen

Diese Definition der "Prinzipien der Scharia" entspricht allerdings nicht mehr der des Verfassungsgerichts. Mit der neuen Interpretation verschwimmt die Grenze zwischen der Aufnahme eines islamischen Kernbestands im Sinne des Verfassungsgerichts und der Aufnahme der Scharia im Sinne der "Hizb al-Nour".

Sofern die "Grundlagen der islamischen Rechtswissenschaft" und die "Rechtsquellen" im Sinne der Muslimbruderschaft und der "Hizb al-Nour" auch als (detaillierte) Ausführungen der Rechtsschulen zu verstehen sind, die im Wesentlichen um das 11. bis 12. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung abgeschlossen waren, legt die neue Verfassung den Grundstein für eine wesentlich formalistischere und traditionelle Rechtsprechung. Ob diese noch mit internationalen Menschenrechtskonventionen vereinbar ist, bleibt fraglich.

Mit der neuen Verfassung ist die Al-Azhar wesentliche Bezugsquelle in allen Fragen, die im Zusammenhang mit der Scharia stehen. Die Rolle des Verfassungsgerichts wird mit diesem Schritt abgewertet. Problematisch ist allerdings, dass die Al-Azhar-Führung nicht demokratisch legitimiert ist.

Bei der liberalen Opposition ist das von der islamistischen Mehrheit in der Verfassungsgebenden Versammlung vorgegebene Verständnis der Scharia, sowie die Verfassung als Ganzes, auf heftigen Widerstand gestoßen. Amr Moussa, die Wafd-Partei, die Presse- und die Bauerngewerkschaft, sowie die Vertreter der Orthodoxen, der anglikanischen und katholischen Kirchen und damit nahezu alle moderaten Kräfte, haben sich aus der Verfassungsgebenden Versammlung zurückgezogen.

Der koptische Patriarch bezeichnete Artikel 219 als „Katastrophe“ und warnte davor, dass dieser Ägyptens Abkehr von einem zivilen und modernen Staat einläute. Andere Teile der Opposition befürchten die Wandlung Ägyptens in einen islamistischen Staat à la Saudi-Arabien.

Niklas Hünseler

© Qantara.de 2012

Niklas Hünseler ist Politik- und Islamwissenschaftler. Zurzeit promoviert er an der Universität zu Köln und der "International Graduate School of Oriental and Asian Studies (BIGS-OAS)" der Universität Bonn über islamisch fundierte Demokratie am Beispiel islamischer Parteien in Ägypten im Kontext spezifischer Scharia-Konzeptionen.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de