Warum wir arabische Medien mehr beachten müssen

Vom Arabischen Frühling wurden die Potentaten genauso überrascht wie der Westen. Das lag auch daran, dass sämtliche arabischen Medien ignoriert wurden, meint der Politologe Asiem El-Difraoui.

Von Asiem El-Difraoui

Jahrelang galt der panarabische Nachrichtensender Al-Jazeera wechselweise als Bin-Laden-Sprachrohr oder als Saddam-Hussein-TV, zu Beginn der arabischen Umbrüche im Frühjahr 2011 dann als Sender der Freiheit. Zur gleichen Zeit machten Begriffe wie Facebook-Revolutionen und YouTube-Aufstände die Runde.

Inzwischen ist der breiten Öffentlichkeit bekannt, dass Al-Jazeera ein ziemlich professioneller und relativ objektiver Nachrichtensender ist – solange die Interessen seines Besitzers, dem Herrscherhaus von Qatar, nicht auf dem Spiel stehen. Erste differenzierte Analysen haben auch schnell die Klischees der Facebook- und YouTube-Revolutionen entkräftet: Die Umbrüche wurden von Menschen getragen und haben bereits über Hunderttausend Todesopfer gefordert.

Dennoch haben die neuen im Zusammenspiel mit den klassischen Medien eine Schlüsselrolle gespielt. Sie haben einen öffentlichen Raum geschaffen und wurden sowohl als politische Infrastruktur zur disproportionalen Ressourcenmobilisierung als auch als wichtiges Informationsinstrument mit großer außenpolitischer Wirkung genutzt.

Newsroom Al-Jazeera, Foto: ddp images/AP
Arabische Zeitenwende im TV-Format: Al-Jazeera gilt als professioneller und relativ objektiver Nachrichtensender, der eine wichtige Rolle bei der Nachrichtenberichterstattung über die Ereignisse im Arabischen Frühling spielte, wie z.B. in Ägypten.

​​Den arabischen Aktivisten ist das Zusammenspiel verschiedener Medien zugute gekommen: Demonstranten filmten die Ereignisse mit ihren Handys und stellten diese Bilder auf YouTube, TV-Kanäle wie Al-Jazeera brachten schließlich die Videos in die Wohnzimmer der gesamten arabischen Welt.

Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklungen

Der westliche Hype über diese in der Geschichte bisher einmalige Mediennutzung ist zeitgleich mit der Euphorie über den Arabischen Frühling verflogen. Dennoch spielt die sich rasant verändernde und blühende Medienlandschaft der arabischen Welt bei den anhaltenden, schwierigen Umbrüchen und Konflikten weiterhin eine entscheidende politische Rolle, sie ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklungen und Missstände.

400 Millionen Menschen in 22 Staaten teilen eine Muttersprache oder können sie im Falle der ethnischen Minderheiten zumeist verstehen. Die Berichterstattung der Medien über Ereignisse in einem Land kann dramatische Folgen in allen anderen Ländern haben. Der Einfluss des Sturzes des tunesischen Diktators Ben Ali auf die Proteste in Ägypten ist ein Beispiel.

Nur wenn wir die arabischen Medien, alte wie neue, genau beobachten und analysieren, kann verhindert werden, dass wir von Entwicklungen in der arabischen Welt erneut völlig überrascht werden. Entwicklungen, die für Europa Folgen haben können – von religiösen Spannungen über Flüchtlingsströme bis hin zu der Rohstoffversorgung.

Die Medien in der arabischen Welt sind darüber hinaus selbst Gegenstand von Machtkämpfen, die für Rechtsstaatlichkeit und Demokratieentwicklung von entscheidender Bedeutung sind.

In Ägypten und Tunesien etwa versuchen die regierenden Vertreter des politischen Islams, die Muslimbruderschaft und die Nahda, stärkeren Einfluss, wenn nicht sogar die Kontrolle über Staatsrundfunk und -fernsehen sowie staatliche Presseagenturen und Zeitungen zu erringen.

Fast pausenlos gründen Vertreter aller politischer Strömungen, von Salafisten bis zu Sozialisten, neue Weblogs und Foren, aber auch Tageszeitungen und TV-Sender. Zudem wird in beiden Ländern intensiv über Pressefreiheit, deren Verankerung in den neuen Verfassungen und die Rolle der Medien als fünfte Gewalt debattiert.

Syriens Desinformationskrieg

In Syrien herrscht ein Informationskrieg – oder besser Desinformationskrieg –, in dem vor allem dem geschwächten Assad-Regime alle Mittel Recht sind, von Socialmedia-Propaganda bis hin zur Tötung von Oppositionsjournalisten und Internetaktivisten.

Ex-Botschafter Syriens im Irak auf Al-Jazeera, Foto: Reuters
Kampf um mediale Deutungshoheit: In Syrien herrscht ein Desinformationskrieg, in dem vor allem dem geschwächten Assad-Regime alle Mittel Recht sind, aber zunehmend auch den Vertretern der syrischen Opposition.

​​Doch auch Mitglieder des Syrischen Nationalrats und der Freien Syrischen Armee betreiben Desinformation. Allein an verlässliche Informationen über die extrem komplexe Situation in Syrien zu kommen und Schwarz-Weiß-Malerei zu vermeiden, ist eine Herausforderung.

Diese zu meistern ist umso wichtiger, als dass der Syrienkonflikt durch die geostrategische Lage des Landes und die auch in den Nachbarländern vertretenen ethnischen und religiösen Gruppen weite Teile des Nahen Ostens destabilisieren kann.

Selbst in Ländern, in denen die Proteste bisher entweder durch Repressionen oder durch das Aufdrehen von Geldhähnen erstickt wurden, allen voran in Saudi-Arabien, werden Medien zu Instrumenten des gesellschaftlichen Wandels. Das Königreich ist die Mediensupermacht der Region und kontrolliert die wichtigsten internationalen arabischen Tageszeitungen und – mit der Ausnahme von Al-Jazeera – die größten TV-Sender.

Dieser mediale Schutzwall verhinderte jahrzehntelang eine negative Berichterstattung über das Königreich in den arabischen Leitmedien. Heute jedoch gelingt es weder den Saudis noch den mit ihnen verbündeten Bahrainis, Nachrichten über die massiven Proteste ihrer schiitischen Bevölkerungsgruppen vollständig zu unterdrücken. Die digitalen Medien machen eine Totalzensur unmöglich.

Generell spielen die neuen Medien in Saudi-Arabien und in den meisten anderen Golfstaaten bereits eine wichtige Rolle als politische und gesellschaftliche Infrastruktur für oppositionelle oder benachteiligte Gruppen. Sie erhöhen den Reformdruck.

Ein Beispiel ist die über Facebook organisierte Women2drive-Kampagne saudischer Frauen, in denen sie ihr Recht zum Autofahren einforderten. Auch das von ägyptischen Frauen erstellte harassmap.org soll staatliche Institutionen zum Handeln zwingen: Die ständig aktualisierte Karte zeigt Orte von Übergriffen auf Frauen in Kairo an. Es soll zu mehr Polizeipräsenz und weniger Angriffen führen. Einfache praktische Anwendungen also, die den gesellschaftlichen Wandel in den arabischen Ländern befördern helfen.

Asiem El-Difraoui

© ZEIT ONLINE 2012

Asiem El-Difraoui ist Politologe, Volkswirt und Dokumentarfilmautor. Als Senior Fellow am Berliner Institut für Medien- und Kommunikationspolitik, beschäftigt er sich derzeit neben seinen Länderschwerpunkten Ägypten, Saudi-Arabien und Irak mit den Themen Jugendkultur in der arabischen Welt, Medienpolitik und Dschihadismus. Sein jüngstes Buch "Der Jihad der Bilder" erscheint Ende des Jahres. Sein Beitrag ist Teil einer Reihe über die neuen Akteure in den Transformationsstaaten der arabischen Welt, die ZEIT ONLINE in Zusammenarbeit mit der Körber-Stiftung veröffentlicht.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de