«Die Menschen liegen im Dreck»: Norbert Blüm über seine Nacht in Idomeni und Kanzlerin Merkel

«Eine apokalyptische Furie wütet im Nahen Osten», schreibt Norbert Blüm in seinem neuen Buch «Aufschrei! Wider die erbarmungslose Gesellschaft», das an diesem Donnerstag erscheint. Millionen Menschen fliehen vor dem Terror des «Islamischen Staates» (IS). Wie es ihnen geht, davon wollte sich der ehemalige CDU-Bundesarbeitsminister ein Bild machen und verbrachte eine Nacht im Flüchtlingslager an der griechisch-mazedonischen Grenze. Im Interview mit Rainer Nolte spricht der 80-Jährige über das Erlebte und seine Motivation.

Warum haben Sie eine Nacht im Zelt in Idomeni verbracht?

Norbert Blüm: Ich will Gehirne verändern und Aufmerksamkeit für eine Welt im Elend bekommen. Wir schließen hier von unseren Verhältnissen auf den Zustand der Welt, wir sind eine Insel des Friedens und des Wohlstandes in einem Weltmeer des Krieges und des Elendes. Da muss man langsam die Leute drauf aufmerksam machen. Ohne Gerechtigkeit kein Frieden.

Sie sagen «Helfen macht glücklicher als Haben». Haben Sie das dort auch empfunden?

Blüm: Den Spruch hatte meine Oma schon von ihrer Oma - und die von ihrer. Es gilt nämlich seit Jahrhunderten der Satz «Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteiltes Glück ist doppeltes Glück». Ich jedenfalls bin am glücklichsten, nicht wenn ich ein Egoist bin, sondern wenn ich für andere etwas Gutes tun kann.

Auch mit Ihrem neuen Buch wollen Sie etwas bewirken. Sie nennen es ein Pamphlet. Muss man poltern, um gehört zu werden?

Blüm: Ja! Mit Säuseln ist das nicht zu machen. Die Waffen sind nämlich auch sehr laut. Und das Geld klimpert auch sehr laut und macht sich sehr marktschreierisch bemerkbar. Also muss man dagegen halten.

Kardinal Reinhard Marx hat kürzlich gefordert, dass in der aktuellen Debattenkultur wieder das richtige Maß gefunden werden müsse - gemäßigte Töne auf beiden Seiten. Sie sprechen aber auch von «Nobelpreis-Idioten» oder von Mordgeschäften, die «uns am Arsch vorbeigehen». Was entgegnen Sie Marx?

Blüm: Wenn ich die Bibel richtig gelesen habe, war die Sprache Jesu nicht die Sprache einer säuselnden Taube, sondern in vielen Fällen eine kräftige Sprache, die sich nicht gescheut hat, mit Worten auch noch die Geldwechsler aus dem Tempel zu jagen.

Warum haben Sie Ihr Buch Kanzlerin Angela Merkel gewidmet?

Blüm: Sie ist eine der wenigen Standhaften gegenüber einem nationalen Egoismus, der in Europa wie eine Seuche ausbricht. Das ist nicht mehr das Europa Adenauers, Schumans und De Gasperis. Es ist das Europa von 28 egoistischen Staaten. Die neuen Europäer östlich von uns, für die der Westen eine Rettungsstation war, benehmen sich jetzt wie bornierte Nationalisten. Sie schieben die Probleme an andere ab. Ist das Problem gelöst, wenn Österreich, Ungarn, die Slowakei, Mazedonien die Grenzen schließen? Die Flüchtlinge sind deshalb nicht verschwunden, sie liegen im Dreck.

Glauben Sie, dass der Einsatz Merkels anerkannt wird?

Blüm: Als ich in Griechenland war, riefen die Menschen voller Glaube und Hoffnung «Germany» und «Merkel». Welch ein Unterschied: Jahrzehnte sind wir auf der Welt verachtet worden. Jetzt betrachten uns viele mit hoffnungsvollem, freundlichem Blick. Statt dass wir darauf stolz sind, weisen wir sogar die Freundlichkeit zurück. Mir ist lieber, Deutschland wird in der Welt hoch angesehen wegen Freundlichkeit als wegen Waffen.

Sie schreiben, dass der Brandstifter wegen seiner Teilnahme am Löscheinsatz nicht freigesprochen wird. Merkel und die Regierung sind bei den Waffenexporten auch involviert. Ist das ein Kritikpunkt?

Blüm: Ja, jedoch ist ein Teil meiner Kritik zu meiner freudigen Überraschung in Angriff genommen worden: Es soll sich bei Waffenexporten nicht nur überlegt werden, wem man sie liefert, sondern wohin die Waffen eventuell weitergegeben werden. Der «Islamische Staat» brüstet sich beispielsweise mit Waffen, die aus Deutschland stammen.

Sie warnen auch vor ökonomischen Folgen.

Blüm: Die Konsequenz ist, dass die Grenzschließungen der deutschen Wirtschaft nicht gut tun werden. Wir müssen wahrscheinlich den Wohlstand, der uns durch Freizügigkeit in Europa ermöglicht wurde, aufgeben. Bei meinem Besuch in Idomeni habe ich gesehen, wie 12.000 Menschen buchstäblich im Schlamm leben und warten. Gleichzeitig öffnen sich zeitweise die Grenztore und es fahren die Güterzüge durch. Freie Fahrt dem Kapital, freie Fahrt den Waren, ungebremster Geschäftsverkehr. Aber kein Durchkommen für die Menschen!

Warum glauben Sie, dass eine gemeinsame Lösung eine Chance für Europa ist?

Blüm: Ich weiß auch nicht, wie wir als Nationalstaat die Klimafrage lösen wollen oder wie wir den sehr mobilen globalen Terrorismus mit nationalen Mitteln bekämpfen wollen. Keines der großen Probleme dieser Erde lässt sich nationalstaatlich lösen. Der Nationalstaat ist ein Ding von gestern. Nebenbei bemerkt: Katholisch war er nie, denn das Wort «katholisch» heißt weltumspannend.

Nationale Lösungen anderer lassen aber derzeit auch Deutschland durchatmen. Warum lehnen Sie dennoch eine Obergrenze ab?

Blüm: Mit einer Obergrenze ist das Flüchtlingsproblem nicht gelöst, solange dem Krieg und dem Elend nicht auch Grenzen gesetzt sind. Nur wenn Europa solidarisch ist, dann ist das Problem zu meistern. Im Übrigen werden wir uns damit nicht zufriedengeben, Menschen zu retten, wir müssen natürlich die Ursachen beseitigen. Ich sage voraus, der nächste Flüchtlingsstrom kommt aus Afrika. Und so viel italienische Wasserschutzpolizei, Nato-Kriegsschiffe und so viel Stacheldraht werden wir nicht auftreiben können, wenn die sich alle auf den Weg machen. Also kann das Problem nicht durch Obergrenzen gelöst werden. Das ist ungefähr so, als wollest du den Hausbrand mit einem Gartenschlauch löschen.

Sie regen ein gemeinsames Miteinander der drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam an. Wie kann das funktionieren?

Blüm: Wenn sie alle drei ihre Botschaft ernst nehmen, dann muss eine große dreieinige Friedensmacht entstehen. Denn alle drei gehen davon aus, dass Gott der Schöpfer aller Menschen ist. Wenn Gott der Schöpfer aller Menschen ist, dann sind wir ja alle Geschwister. Daraus ergibt sich ja das große Weltethos der Geschwisterlichkeit.

Das heißt auch: mehr Moscheen in Deutschland...

Blüm: Ja. Moscheen, so viel sie haben wollen, aber auch Kirchen in Riad, Istanbul, Kaschmir. Toleranz ist nicht einseitig. Ich muss nicht dem zustimmen, was ich toleriere, aber es dulden. Toleranz liegt zwischen zustimmen und ablehnen - eine hohe Kunst.

Eine Kunst, an die Sie glauben?

Blüm: Mir geht es vor allem um Europa. Ich glaube, wir stehen an einem Wendepunkt. Entweder geht es wieder zurück in nationalen Egoismus mit allen Katastrophen, die er in der Geschichte bewirkt hat, oder wir machen einen großen Sprung nach vorne zu einer großen europäischen Friedensordnung. Dazu gehört, dass wir nationale Kompetenzen an europäische Institutionen abgeben müssen.

Hört sich nicht sehr kompliziert an, oder?

Blüm: Das ist schwer, wer gibt schon gern etwas her. Aber eine friedliche Weltordnung verlangt diesen Schritt. Es wird einer Balance bedürfen zwischen Globalisierung, also dem Trend ins Weite, und Lokalisierung, also in die Überschaubarkeit der Lebensverhältnisse. Europa und Heimat sind die neuen Ordnungspole, dazwischen wird der Nationalstaat bestenfalls eine vermittelnde Position einnehmen. Damit muss auch eine Renaissance der kleinen Familie verbunden sein – sie ist der Stabilitätsanker in der großen Globalisierung. (KNA)