Deutsche Waffen zwischen den Fronten im Nahen Osten

Das Dilemma war der Bundesregierung von Anfang an bewusst. "Das, was ist, wiegt in diesem Fall schwerer als das, was sein könnte", begründete Kanzlerin Angela Merkel im September 2014 den Tabubruch, entgegen allen deutschen Gepflogenheiten Waffen in ein Kriegsgebiet zu liefern. Von Sabine Siebold

Um den rasanten Vormarsch der Extremistenmiliz IS im Irak zu stoppen, erhielten die kurdischen Peschmerga-Kämpfer im Norden des Landes in den folgenden Jahren mehrere Lieferungen deutscher Waffen, darunter auch 1.200 Panzerabwehr-Raketen des Typs Milan. Bei den Kurden genießt die Waffe inzwischen einen legendären Ruf. Die Milan wäre aber auch für den Einsatz gegen den Kampfpanzer Leopard 2 geeignet, den die Türkei bei ihrer Offensive gegen die Kurden-Miliz YPG im Norden Syriens nutzt. Experten halten es jedoch für unwahrscheinlich, dass die Waffen von Kurden zu Kurden weitergereicht werden und damit deutsche Raketen gegen deutsche Panzer zum Einsatz kommen könnten.

Kenner der Region verweisen auf die tiefe Feindschaft zwischen der Kurdenregierung im nordirakischen Erbil und der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK, als deren syrischer Ableger die YPG gilt. "Die Chance, dass die Kurdenregierung der PKK offiziell Waffen zukommen lässt, ist gleich null", sagt Francis O‘Connor von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). "Es gibt keine Beziehung zwischen den Peschmerga und der PKK. Sie haben in den 90er Jahren ein paarmal gegeneinander gekämpft, und obwohl es seither kaum noch zu offenen Feindseligkeiten gekommen ist, sind sie weiter erbitterte Gegner."

Gegen eine Weitergabe der Milan-Raketen an die YPG spreche auch, dass die Waffen dann gegen die Türkei zum Einsatz kämen. "Die Regierung in Erbil betrachtet die Türkei als ihr einziges Tor zum Rest der Welt und würde daher eher den Zugang zum Irak aufgeben als die Verbindung zur Türkei", sagt O'Connor. Auch wirtschaftlich spiele die Türkei eine wichtige Rolle. Viele Mitglieder der im Nordirak herrschenden Dynastien Barsani und Talabani unterhielten Büros und Firmen in Ankara und Istanbul.

Zudem stelle die PKK eine unmittelbare Bedrohung für das Herrschaftsmodell der Kurdenregierung in Erbil dar. "Sie befürchtet, dass die PKK ihre Mobilisierungsbemühungen im Nordirak ausweiten könnte", erklärt O'Connor. "Wenn man sieht, wie schlecht die Region regiert wird, ist (den nordirakischen Kurdenparteien) DPK und PUK klar, dass dies ihre Herrschaft dramatisch untergraben könnte."

Gäbe die Kurdenregierung Waffen an die YPG weiter, dürfte sie zudem die Unterstützung Deutschlands einbüßen. Denn in einer Endverbleibsverpflichtung hatte die Führung in Erbil der Bundesregierung zugesagt, das Militärmaterial nur gegen den IS einzusetzen. Neben den Milan-Raketen lieferte Deutschland den Peschmerga zwischen September 2014 und November 2016 auch 24.000 Sturmgewehre, 8.000 Pistolen, 400 Panzerfäuste sowie 60 Milan-Abschussgeräte.

Die Türkei erhielt unterdessen für den Einsatz ihrer rund 350 aus Deutschland stammenden Leopard-2-Panzer keine Auflagen. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Berlin existiert lediglich eine allgemeine Endverbleibsklausel, wonach die Türkei die Panzer Dritten nicht ohne vorherige schriftliche Zustimmung der Bundesregierung zur Nutzung überlassen oder verkaufen darf.

Auch der Grünen-Außenexperte Omid Nouripour geht angesichts der Feindschaft zwischen den Peschmerga und der YPG nicht davon aus, dass die Kurdenregierung in Erbil in großem Stil Waffen an die syrische Kurdenmiliz abgeben würde. Nach seiner Einschätzung bleibt jedoch zumindest ein Restrisiko. "Es ist nicht auszuschließen, dass Waffen in einzelnen Fällen den Besitzer wechseln. Deutsche Waffen sind bereits auf Schwarzmärkten in der Region aufgetaucht", sagt der Bundestagsabgeordnete. In Syrien und dem Irak sei die Weiterverbreitung von Kriegswaffen ohnehin kaum mehr zu kontrollieren.

"Viele syrische Soldaten haben ihre Waffen verkauft, zweifelhafte Milizen wechseln mit ihren Waffen immer wieder die Seiten im Bürgerkrieg, und der IS hat noch immer eine volle Geldschatulle", erklärt der Grünen-Politiker. “Wir wissen auch, dass die Peschmerga sehr lange Zeit keinen Sold bekommen haben und einige von ihnen immer mal wieder ihre Waffen verkauft haben - aber eher altes Material, nicht die (moderneren, von der Bundeswehr stammenden Sturmgewehre des Typs) G36”.

Nouripour warnt davor, die heutige Lage im nordsyrischen Afrin mit dem Kampf um die vom IS belagerte Kurdenstadt Kobani im Jahr 2015 zu vergleichen. Damals hatte die Kurdenregierung in Erbil nach langem Zögern einige Peschmerga geschickt, um die YPG bei der Verteidigung der Stadt zu unterstützen. "Das ist eine völlig andere Situation. In Kobani ging der Kampf gegen den IS, in Afrin würde er sich gegen die Türkei richten", sagt der Politiker. "Da würden sich die Peschmerga nicht aus freien Stücken einmischen." Führende Kommandeure der YPG hätten zudem bereits gesagt, dass keine Hilfe von den Peschmerga zu erwarten sei. (Reuters)