Der Schriftsteller Mathias Énard: Frankreichs neuer Balzac

Mathias Énard wird manchmal mit dem berühmten Romanautor Honoré de Balzac verglichen. Für «Kompass» erhält er nun in Leipzig den Preis zur Europäischen Verständigung. Ein Autor von seltener Originalität. Von Sabine Glaubitz

Buschige Augenbraunen, rundes Gesicht, hohe Stirn, breite Schultern: Zwischen dem französischen Gegenwartsautor Mathias Énard und Honoré de Balzac, einem der bedeutendsten Romanautoren der Weltliteratur, besteht nicht nur äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit. Auch die Bücher des 45-jährigen Énard sind von seltener Originalität und Gelehrsamkeit.

Für seinen Roman «Kompass» hat er 2015 den begehrten französischen Prix Goncourt bekommen. Nun wird Énard für seinen Bestseller am 22. März im Leipziger Gewandhaus mit dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

«In einer Welt, in der sich Orient und Okzident zunehmend in einer Schockstarre aus Feindseligkeit, Angst, aus Drohung und Gegendrohung gegenüberstehen, schenkt er uns einen von großer menschlichen Anteilnahme geprägten Einblick in den arabischen Kulturraum», erklärte die Jury. Énard hatte die ersten Seiten zu seinem Buch schon 2005 geschrieben - lange vor den blutigen Attentaten in Frankreich im Jahr 2015 und Brüssel im März 2016. Begriffe wie Islamfeindlichkeit und identitäre Bewegung waren noch keine gängigen Schlagworte.

Als sein Buch im November 2015 mit Frankreichs Literatur-Spitzenpreis Goncourt ausgezeichnet wurde, feierten die Medien das Werk als Gegenmittel gegen die Dämonisierung des Islams und des Anderen und Énard als einen Vermittler zwischen Orient und Okzident. 

Statt Angstmacherei vor dem Islam stimmt Énard ein Hohelied auf die Kunst und Kultur der arabischen Welt an. Der Roman handelt von der jahrhundertelangen Leidenschaft des Westens für die abendländische Kultur, von dem künstlerischen und kulturellen Einfluss des Orients auf den Okzident.

Im Mittelpunkt des monumentalen Werks stehen die beiden Orientalisten Franz und Sarah. Der Roman erschien im vergangenen Jahr auf Deutsch; die Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Ihm selber geht es um weit mehr. «Mein Buch handelt von der Neugierde auf den Anderen, von der Leidenschaft für andere Kulturen. Es geht weit über jegliche Grenzen und Kulturräume hinaus», sagte er. Die Offenheit für Neues verhindere Verschlossenheit und den Rückzug auf seine eigene Identität. Seine Überzeugung: Um sich zu entwickeln und weiterzuentwickeln, muss man sich öffnen und einander verstehen.

Énard lebt seine Überzeugung. In den vergangenen zehn Jahren hat er in Ägypten gelebt, im Libanon, wo er für das Rote Kreuz gearbeitet hat, im Iran, in Syrien und in Italien. Das sei eine seiner glücklichsten Zeiten gewesen, wie er sagte, denn er habe enorm viel gelernt.

Heute hat er Barcelona zu seinem Lebensschwerpunkt gemacht. Aber auch in der katalonischen Hauptstadt lebt er in der arabischen Welt weiter. Zusammen mit einem libanesischen Freund hat er ein Restaurant eröffnet, das «Karakala». Von seinen Reisen habe er unzählige Rezepte mitgebracht, wie er erzählte. Auch Balzac war dem Kulinarischen nicht abgeneigt. In seinem Romanwerk «Die menschliche Komödie» über die französische Gesellschaft in der Zeit der konservativ-monarchistischen Restauration hat Balzac nicht weniger als 250 Kochrezepte verarbeitet.

Der Weltenbummler wurde am 11. Januar 1972 in Niort geboren, im Westen Frankreichs. Mit 19 wurde es ihm in der rund 60.000 Einwohner zählenden Stadt in der Nähe von La Rochelle zu eng. «Es gab dort nichts Exotisches. Ich wollte etwas ganz anderes sehen und erfahren», erklärte Énard.

Und so begann er in Paris die arabische und persische Sprache zu studieren. Dann lebte er zunächst mehrere Jahre in Damaskus, bevor es ihn weiter nach Beirut und Teheran zog. Er habe sich in der arabischen Welt immer Zuhause gefühlt, denn die arabische Sprache sei ein Teil von ihm geworden. In Barcelona unterrichtet er deshalb auch Arabisch an der Autonomen Universität.

International bekannt wurde er mit «Zone» aus dem Jahr 2008. Der Roman ist ein innerer Monolog eines Mannes, der als Agent des französischen Geheimdienstes in den Konfliktzonen des Mittelmeerraums tätig war. Der Protagonist sitzt in einem Zug und ruft die Erinnerungen an die Grausamkeiten der Kriege wach, jene des Nordafrikakriegs von Mussolini, des Balkankriegs und des Blutbads der christlichen Phalange in Beirut im Jahr 1982.

Das über 500 Seiten lange Buch besteht aus über 20 Kapiteln, jedes aus nur einem Satz  - ohne Punkt. An Originalität und stofflicher Verdichtung war Énard schon da nicht zu übertreffen. (dpa)

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