Ernüchternde Bilanz

In Syrien herrscht Krieg, in Ägypten und Tunesien regieren Islamisten, die Türkei steht zwischen den Fronten und der Friedensprozess steckt fest. Wo steht der Nahe Osten zwei Jahre nach dem  Beginn des Arabischen Frühlings?

Von Bettina Marx

Auch in diesem Jahr ist der Nahe Osten nicht zur Ruhe gekommen. Die Euphorie über den Sturz der Diktatoren in Tunesien, Ägypten und Libyen ist verflogen. Der blutige Bürgerkrieg in Syrien verursacht Entsetzen in der Öffentlichkeit und Ratlosigkeit in der Politik, und die anhaltende und massive Unterdrückung der Opposition in Bahrain ist fast gänzlich aus den Schlagzeilen verschwunden.

Trotzdem ist der EU-Beauftragte für den Nahost-Friedensprozess, Andreas Reinicke, optimistisch: "Ich bin überzeugt, dass sich die arabische Welt mehr in Richtung Öffnung und Freiheit entwickeln wird", sagte er bei der außenpolitischen Jahrestagung der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin.

Dabei müsse man jedoch realistisch sein. Dieser Prozess werde sich in Sprüngen vollziehen und Zeit brauchen. "Ich glaube, wir werden eher in Jahrzehnten als in Jahren denken müssen." Die Europäer sollten diesen Prozess positiv und mit Geduld begleiten.

Die neuen Verhältnisse führten zu Machtverschiebungen in der Region. So habe Syrien bereits jetzt seine führende Rolle verloren, Ägypten sei dagegen dabei, seinen angestammten Platz als arabische Führungsmacht zurückzugewinnen.

Ende des "post-osmanischen Systems"

Demonstration syrischer Kurden in Qamishli; Foto: AFP/Getty Images
Renaissance des kurdischen Nationalismus: Der arabische Frühling hat das Erstarken der politisch aktiven kurdischen Minderheiten gefördert - nicht nur in Syrien, sondern auch in der Türkei.

​​Nach Einschätzung des türkischen Ökonomen und Politikwissenschaftlers Soli Özel aus Istanbul bedeuten die Umwälzungen im Nahen Osten das Ende des "post-osmanischen Systems", eine Ordnung, die von Großbritannien und Frankreich geschaffen wurde.

"Es macht niemals Spaß, den Zusammenbruch eines Reiches mitzuerleben", sagte Özer. Es sei zu blutig und zu schrecklich. Das "post-osmanische System" baue auf der arabisch-sunnitischen Vorherrschaft auf. Diese sei jedoch durch den ersten Golfkrieg und die Schaffung der kurdischen Schutzzone im Nordirak erschüttert worden.

Inzwischen sei der kurdische Nationalismus auf dem Vormarsch, die sunnitische Dominanz sei durch den Aufstieg des schiitischen Islam abgelöst worden, und überall spalteten sich ethnische und religiöse Minderheiten ab. Besonders deutlich werde dies in Syrien, wo der Aufstand einer friedlichen Opposition gegen die Diktatur inzwischen in einen multi-ethnischen und konfessionellen Bürgerkrieg gemündet sei.

In der ganzen nahöstlich-nordafrikanischen Region gebe es eigentlich nur vier Länder, die wirklich einigermaßen stabile Staaten seien: der Iran, die Türkei, Israel und Ägypten. Nur eines dieser Länder, nämlich Ägypten, sei arabisch-sunnitisch geprägt. Doch auch diese vier Staaten würden von inneren und äußeren Konflikten erschüttert.

Die Türkei als Modell?

Vor dem Hintergrund dieser dramatischen Umwälzungen gewinne die Türkei an Bedeutung. "Immer wenn sich der Westen in Schwierigkeiten befindet, ruft er nach der Türkei", so Özel. Die laizistisch geprägte und in der NATO verankerte Republik solle den nachrevolutionären arabischen Staaten mit ihren neuen islamistischen Regierungen als Modell dienen.

Mohamed Mursi und Recep Tayyip Erdogan; Foto: Reuters/Kayhan Ozer
Kein Vorbild für die neuen Regierungen der arabischen Welt? Obwohl eines der wenigen stabilen Länder im Nahen Osten, ist die Türkei, nach Ansicht der türkischen CHP-Abgeordneten Binnaz Toprak, nicht als Staats-Modell für Länder wie Ägypten geeignet.

​​"Einer der Gründe, warum wir in den vergangenen 30 Jahren nirgendwo in der arabisch-muslimischen Welt einen Übergang zur Demokratie hatten, ist, dass wir nur ein Modell dafür kannten, nämlich das iranische Modell", so der Tunesier Radwan Masmoudi, Gründer und Präsident des in Washington beheimateten "Center of the Study of Islam & Democracy".

Dieses Modell sei jedoch gescheitert. Dafür böte sich jetzt das türkische an. Auch wenn es nicht perfekt sei, so könne es den Menschen in Tunesien und Ägypten einen Weg aufzeigen, wie man Islam und Demokratie und sogar Islam und Säkularität in Einklang bringen könne.

Vor der Türkei als Vorbild warnt jedoch Binnaz Toprak, Abgeordnete der sozialdemokratischen türkischen Oppositionspartei CHP. Die Türkei sei keine liberale Demokratie im westlichen Sinne. Unter der Herrschaft von Ministerpräsident Erdogan und seiner islamischen Partei AKP habe sich das Land zu einem Ein-Parteienstaat entwickelt, in dem die alevitische Minderheit unterdrückt und ausgegrenzt werde und nur noch Parteimitglieder Jobs finden könnten. Demokratische Rechte seien abgebaut worden, die Medien würden zum Schweigen gebracht, das Rechtssystem sei ausgehöhlt worden.

Sie warne daher davor, die Türkei als Modell wahrzunehmen. Das Land zeige vielmehr, dass islamistische Parteien durch demokratische Wahlen an die Macht kämen, dann aber ihre Macht ausnützten, um die Demokratie zu zerstören.

Die Rolle der EU

Nicht nur die Türkei, sondern auch die Europäische Union ist von den Entwicklungen in Nordafrika und im Nahen Osten unmittelbar betroffen. "Der Nahe Osten ist nicht da draußen", meinte der Politikwissenschaftler Soli Özel auf der Tagung in Berlin. "Er ist hier. Er gehört zu Europa."

Annegret Bendiek von der Berliner "Stiftung Wissenschaft und Politik" dämpfte jedoch die Erwartungen an die EU. Das Nachbarschaftsprogramm der Europäischen Union richte sich an 16 Anrainer-Staaten von Belarus über den Kaukasus bis Nordafrika und den Nahen Osten. Das Ziel müsse es sein, eine Region der Stabilität, Sicherheit und Wohlfahrt zu schaffen.

Das Europaparlament tagt in Straßburg; Foto: EU
Unerfüllbare Erwartungen: Laut Annegret Bendiek (SWP) hat der Einfluss der Europäischen Union politische und finanzielle Grenzen. Ohne finanzielle Unterstützung durch die arabischen Monarchien sei ein wirtschaftliches Aufbau-Programm für den Nahen Osten nicht durchführbar.

​​Dabei stoße die EU, auch wegen der divergierenden Interessen ihrer eigenen Mitgliedsstaaten, schnell an politische und finanzielle Grenzen. So sei beispielsweise die immer wieder geforderte Aufstellung eines Marshall-Plans für den Nahen Osten ohne die Hilfe der wohlhabenden arabischen Monarchien nicht zu stemmen. Nur so könne ein Wirtschaftswiederaufbau-Programm greifen.

Scharfe Kritik an der Politik der Europäer übte die ägyptische Menschenrechtsaktivistin Heba Morayef von "Human Rights Watch Kairo". Sie verurteilte die langjährige Kooperation der EU mit den gestürzten Diktatoren in Ägypten, Libyen und Tunesien. "Die EU hat keine Menschenrechtspolitik", urteilte sie. Für die Zukunft empfehle sie der Europäischen Union, Menschenrechtsziele nicht mehr schriftlich festzulegen, wenn man keine Absicht habe, auf ihre Umsetzung hinzuwirken.

Bettina Marx

© Deutsche Welle 2012