Ein Rechenfehler

Wie in der Islamkritik bricht in der Beschneidungsdebatte ein rabiat religionsfeindlicher Zeitgeist durch. Aber das Grundgesetz macht den Menschen nicht neu, sondern findet ihn vor, wie er ist. Von Patrick Bahners

Von Patrick Bahners

Wer über seiner Steuererklärung sitzt und in aller Gründlichkeit Abschreibungen und Zuwendungen addiert, bis er am Ende herausbekommt, dass er mit einer Rückzahlung in Höhe des Bundeshaushalts rechnen kann, der sieht sofort, dass das Ergebnis nicht stimmen kann. Diese Evidenz der Absurdität gibt es auch im Tätigkeitsbereich der praktischen Vernunft. Ein Urteil eines deutschen Strafgerichts, dessen Befolgung dazu führen würde, dass sämtliche Juden das Land verlassen müssten, kann nicht richtig sein. Das sagt der gesunde Menschenverstand, manchmal lieber Common Sense genannt. Und das erklärt die ebenso raschen wie entschiedenen Reaktionen der maßgeblichen Politiker auf das Kölner Beschneidungsurteil. Ihre Intuitionen sind intakt. Das beruhigt.

Die Verteidiger des Kölner Urteils meinen, die unerquickliche Folge, dass Juden vor die Entscheidung gestellt werden, entweder den Beschneidungsritus zu verwerfen oder aus Deutschland auszuwandern, könne die Deduktionen des Landgerichts nicht erschüttern. Es walte Gerechtigkeit nach den Begriffen des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, so lautet die jüngste Aktualisierung des Wahlspruchs Kaiser Ferdinands I., auch wenn die jüdische Welt deshalb untergehe. Die Herstellung gerechter Verhältnisse verlangt in dieser Sicht die Beseitigung aller historisch gewachsenen Gestalten der Sittlichkeit, die sich in rechtlicher Betrachtung als vernunftwidrig darstellen. Ironischerweise stammt diese Vorstellung aus der Sphäre der Religion, deren Einrichtungen doch gerade der Prozess gemacht werden soll: Das reinigende Feuer ist die apokalyptische Idee der Gerechtigkeit.

Es geht immer um das Wohl des einzelnen Kindes

Der Rechtspositivismus wird sich untreu, wenn er seine Setzungen als absolute moralische Größen durchsetzen will. Dass alles Recht gemacht ist, sollte eigentlich die Konkurrenz von Lebensentwürfen stimulieren. Das Grundgesetz, recht verstanden als veränderliches Menschenwerk aus den Jahren 1949 ff., macht die Welt nicht neu. Es findet die Menschen vor, wie sie sind, mitsamt ihren Idealen, Vorurteilen und Bräuchen. Eine Religion, deren Gemeinden an Rhein und Main bis ins 4. Jahrhundert nach Christus zurückgehen, ist auf deutschem Boden nicht unter dem Vorbehalt ihrer Übereinstimmung mit dem Grundgesetz heimisch. Umgekehrt ist die geschriebene Verfassung zwanglos im Lichte der moralischen Überlieferungen auszulegen, die unter Deutschen anzutreffen sind.

Ein Rabbiner verfolgt die Debatte im Bundestag; Foto: dapd
Politisches Signal: Der Bundestag hat einem Entschließungsantrag von CDU/CSU, SPD und FDP zur rechtlichen Regelung der Beschneidung von minderjährigen Jungen mit großer Mehrheit zugestimmt. Damit bleiben Beschneidungen bis zum Inkrafttreten eines entsprechenden Gesetzes straffrei.

​​Das Grundgesetz hat den Zweck, dass die Deutschen ungeachtet aller Unterschiede ihrer Überzeugungen und Gewohnheiten in Frieden miteinander leben. Es ist undenkbar, ihm die Absicht zu unterstellen, jüdisches Weiterleben in Deutschland unmöglich zu machen. Die Kölner Richter müssen sich verrechnet haben. Und tatsächlich ist der Fehler bei Lektüre der Urteilsgründe unschwer zu finden. Das Landgericht behauptet einen Verstoß gegen das Kindeswohl, ohne in Rechnung zu stellen, um welches Kind es in dem zu entscheidenden Fall geht: um den vierjährigen leiblichen Sohn zweier Eltern muslimischen Glaubens.

Es liegt auf der Hand, dass ein abrahamitischer Fundamentalist mit aller Härte des Gesetzes bestraft werden müsste, der einen Jungen kidnappen würde, um ihm die Wohltat der Beschneidung zukommen zu lassen, so wie im 19. Jahrhundert katholische Dienstmädchen heimlich jüdische Kinder tauften. Das Gericht zieht aber gar nicht erst in Betracht, dass die Abwägung zwischen Nutzen und Schaden des Eingriffs bei Kindern aus verschiedenen Familien verschieden ausfallen könnte. Dabei muss das Wohl des Kindes doch immer das Wohl des einzelnen Kindes sein.

Recht auf Erziehung

Einen falschen Gegensatz konstruiert das Gericht, indem es das elterliche Erziehungsrecht gegen das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung ausspielt. Die Eltern erscheinen hier als Angreifer, deren Willkür eine Grenze gezogen werden muss. Aber das Erziehungsrecht der Eltern ist kein Privileg auf Kosten des Kindes, keine Verfügungsmacht, wie sie Mieter gegenüber Vermietern besitzen. Es ist gar kein Grundrecht nach Art der Meinungs- oder Berufsfreiheit, kein Recht auf Selbstverwirklichung. Die grundrechtlich geschützte Position ist in Wahrheit das Recht des Kindes, von den eigenen Eltern erzogen zu werden. Eltern, die ihren Sohn zur Beschneidung bringen, handeln im Interesse des Kindes.

Das Amtsgericht hatte das im Kölner Fall in der ersten Instanz noch bestätigt: Der Entschluss der Eltern "richtete sich zutreffend am 'Wohl ihres Kindes' aus". Die Beschneidung diene nämlich "als traditionell-rituelle Handlungsweise zur Dokumentation der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit zur muslimischen Lebensgemeinschaft" und wirke damit "einer drohenden Stigmatisierung des Kindes entgegen". Das Unerträgliche an der Meinung des Landgerichts, dass die Einwilligung der Eltern die Beschneidung nicht rechtfertigen kann, ist der Schaden, den sie dem Kind zufügt. Welchen Effekt hat die an den Beschneider adressierte Strafdrohung? Dem Jungen wird das Zeichen des Bundes vorbehalten, die im Familienkreis gefeierte Beglaubigung seiner Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gottesfreunde. Sein Leben soll sich nicht von Anfang an in Übereinstimmung mit Abrahams Vorbild oder dem Beispiel des Propheten entfalten dürfen.

Was auf dem Spiel steht

Instrumente für eine Beschneidung; Foto: picture-alliance/dpa
Unterschiedliche Beweggründe: Im Islam wie im Judentum folgt die Beschneidung für Männer einer uralten Tradition. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel sind es hingegen vor allem hygienische und medizinische Motive, die dazu führen, dass dort etwa 75 Prozent der Männer beschnitten sind.

​​Leon Wieseltier schrieb 2009 in der "New Republic" in einer Replik auf Christopher Hitchens, der die Beschneidung als sexuellen Missbrauch charakterisiert hatte, der wichtigste Gesichtspunkt, der für den Ritus spreche, sei Mitgliedschaft: "Ich bin ein Jude, und so ist mein Sohn ein Jude. Da ich glaube, dass es eine Ehre ist, ein Jude zu sein, werde ich meinem Sohn diese Ehre nicht vorenthalten. Wenn ich ihn nicht zu einem Juden mache, kann er sich später nicht entscheiden, ob er ein Jude sein will oder nicht, weil er das nicht kennt, wofür oder wogegen er sich entscheidet." Genauso argumentierte jetzt Robert Spaemann in der "Zeit". Wieseltier weiter: "Mein Kind ist frei, aber jetzt noch nicht. Und der Schnitt ist nicht das einzige Zeichen, das ich an ihm anbringe. Vielleicht wird er die Liebe und den Stolz in diesem Zeichen sehen. Aber er ist nicht nur seines Vaters Sohn, wie ich nicht nur meines Vaters Sohn war. Wir sind die Söhne eines Volkes."

In jüngerer Zeit häufen sich Kontroversen um die religiöse Erziehung. Auf dem Spiel steht das Recht der Kinder, in eine moralische Welt hineinzuwachsen. Sie müssen sich darauf verlassen dürfen, dass der Staat ihre Eltern nicht als ihre Feinde betrachtet und nur im äußersten Notfall, wie ihn das Bundesverfassungsgericht im Verfahren um die Ablehnung der Bluttransfusion durch die Zeugen Jehovas zu erörtern hatte, als Vormund an die Stelle der Eltern tritt. Der Anteil der Beschnittenen unter den Männern auf der Welt wird auf ein Drittel geschätzt.

Unhistorisches Denken

Wo das Amtsgericht darauf hinwies, dass im englischsprachigen Raum medizinische Gründe für eine Beschneidung weithin akzeptiert sind, machte sich das Landgericht die Argumente zu eigen, die der Passauer Strafrechtler Holm Putzke seit 2008 in einer Aufsatzserie verbreitet. Im Kleingedruckten eines Artikels in der "Neuen Juristischen Wochenschrift" ging Putzke nebenbei auf das Gesetz über die religiöse Kindererziehung aus dem Jahr 1921 ein. "Zur damaligen Zeit", schrieb er, "setzte sich die Bevölkerung mehrheitlich aus Protestanten und Katholiken zusammen. Andere Bekenntnisse spielten in der Lebenswirklichkeit genau genommen keine Rolle." Genau genommen! Die ungeheuerliche Gedankenlosigkeit dieses Satzes ist charakteristisch für das unhistorische Denken hinter der Kampagne gegen die Knabenbeschneidung. Putzke projiziert das Ergebnis von Hitlers Vernichtungspolitik zurück auf die Weimarer Republik und bürgert die Juden aus dem nationalen Gedächtnis aus.

Angela Merkel; Foto: picture-alliance/dpa
Rhetorische Intuition im Ernst der Lage: Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte, Deutschland würde zur "Komikernation" werden, sollte es tatsächlich als einziges Land der Erde Juden die Ausübung ihrer Riten unmöglich machen.

​​Solcher Rohheit entgegenzuwirken heißt allerdings nicht, dass das Absehen von einem Beschneidungsverbot, wie es die Bundestagsfraktionen gesetzlich befestigen wollen, aus den Erinnerungspflichten der Deutschen zu rechtfertigen wäre. Es geht um menschenrechtliche Normalität. Der Verweis auf das Verbot der Holocaustleugnung und die von der Bundeskanzlerin zum Element der Staatsräson erklärte Freundschaft mit Israel führt in die Irre. Die Gründe für das schnelle Handeln mit dem Ziel einer Klarstellung des Gesetzgebers fallen nicht zusammen mit den Gründen für das Gesetz.

Eine Übung des Takts

Sollte die historisch gebotene Rücksichtnahme Deutschlands auf die Juden der Grund für die Verneinung der Strafbarkeit abgeben, wäre die Hinnahme der Beschneidung als Ausnahme charakterisiert. Und damit wäre den Antisemiten Recht gegeben, die die Parole verbreiten, vor dem aufgeklärten Bewusstsein seien die Riten der Juden nicht zu entschuldigen. Der Professor, der Putzke in dessen Assistententagen auf das Beschneidungsthema ansetzte, war durch die Lektüre Necla Keleks darauf gekommen. Wie in der Islamkritik bricht in der Beschneidungsdebatte ein rabiat religionsfeindlicher Zeitgeist durch, der im Internet zu sich gekommen ist. Durch die Meinungsforen wälzt sich eine Flutwelle der Zustimmung zum Urteil aus Köln. Ein bewundernswertes Gespür für die kommunikativen Anforderungen der heiklen Lage, in der sich die deutsche Politik deshalb befindet, spricht aus dem vor ein paar Tagen kolportierten Wort Angela Merkels, Deutschland dürfe nicht zur Komikernation werden: unschlagbar knapp und trocken, wie das "nicht hilfreich" zur Entzauberung Sarrazins.

Der Sarkasmus der Kanzlerin ist eine Übung des Takts. Ihre drastische Warnung lenkt ab von der wahren Gefahr: Ein deutscher Sonderweg des Beschneidungsverbots müsste in der Welt als Ausdruck eines humanistisch legitimierten Antisemitismus aus schlechtem Gewissen verstanden werden, wie er in den Enthusiasmus für die Sache der Palästinenser eingeht. Wenn es so nicht gemeint gewesen sein soll, dann nimmt man den Mangel an Urteilskraft im Kölner Urteil lieber als grotesken Fauxpas, als Rechenfehler von astronomischem Ausmaß.

Patrick Bahners

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2012

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de