Zwei Jahrhunderte zerfallen zu Asche

Waren es randalierende Jugendliche, Soldaten oder versprengte Mubarak-Anhänger? Die Frage ist noch offen. Doch das Ergebnis der Brandstiftung im Kairoer Institut d'Égypte steht fest: Durch die Feuersbrunst verliert das Land seine wertvollste Kollektion historischer Bücher. Aus Kairo informiert Sonja Zekri.

Erst jetzt, wo alles hin ist, das Haus eine rauchende Ruine, Tausende Bücher verbrannt, erst jetzt begreift Ägypten, was es verloren hat. "Kein Mensch wusste, dass in diesem Gebäude eine solche Sammlung war", sagt Sain Abd el-Hady, der Direktor der Nationalbibliothek in Kairo.

Das Gebäude: Ein früher einmal helles Eckhaus neben dem ägyptischen Parlament, nur einen Steinwurf vom Tahrir-Platz entfernt, war der Sitz des napoleonischen Institut d'Égypte. Die Sammlung: Ägyptens wertvollste Kollektion historischer Bücher, fast 200.000 Bände, darunter Zehntausende Karten, Zeitschriften aus zwei Jahrhunderten, zudem der "Atlas von Ober- und Unterägypten" aus dem Jahr 1752, ein deutscher Atlas von Ägypten und Äthiopien aus dem Jahr 1842 - und ein Erstdruck der 24-bändigen "Description de l'Égypte", verfasst von französischen Wissenschaftlern im Gefolge Napoleons.

Wie es so weit kommen konnte, wie das Unglück geschah, darüber gehen die Meinungen auseinander: Jemand habe während der jüngsten Scharmützel zwischen aufgebrachten Jugendlichen und der Armee einen Brandsatz in das Gebäude geworfen, heißt es. Es war die Armee, sagen die Aktivisten.

Es waren die Jugendlichen, sagt die Staatsmacht. Und Bibliothekschef el-Hady, der eigentlich erst kam, als der Brand schon wütete, sagt, er habe eine Gruppe Straßenkinder gesehen, die von "drei Männern in roten Helmen" angestiftet wurden: "Ich ahne die Hand des alten Regimes." Die Anhänger des gestürzten Pharaos Hosni Mubarak hätten Zwietracht und Chaos säen wollen. Sagt er.

Jugendliche Demonstranten vor brennendem Gebäude am Tahrir-Platz; Foto: AP
Gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen Militär und Demonstranten: Wer die Brandsätze in das Institut d'Égypte in Kairo warf, ist bislang noch ungeklärt.

​​So oder so ändert es nichts am Ergebnis, und das stellt sich folgendermaßen dar: Das Gebäude, das zuletzt als Forschungskomplex geführt wurde, ist ein Torso, Dach und Decken sind eingestürzt, die Wände bedrohlich geneigt, die Regale geschmolzene Stahlskelette.

Vor el-Hadys Bibliothek an der Uferstraße trocknen auf dem Rasen im Vorgarten - ausgebreitet auf Zeitungspapier oder Plastik - die Reste der von Löschwasser durchtränkten Werke, Zeitschriften, Folianten, Zeichnungen auf Arabisch, Französisch, Englisch, Russisch. 50.000 Einheiten wurden gerettet, einige in passablem Zustand, andere schwer zerstört.

Schimmel wäre das Schlimmste

Drinnen schweißen ägyptische Restauratorinnen Bücherstapel vakuumverpackt in Plastik ein. Schimmel wäre das Schlimmste, sagen sie. Wenn wir verhindern, dass die Blätter schimmeln, können wir sie später mit Chemikalien behandeln, die verbrannten Ränder abschneiden, die Seiten stärken. Dann haben wir eine Chance.

Zwei Soldaten bringen eine Holzkiste mit neuen Buchresten. Hinter einer Glaswand stapeln sich Papierstapel brusthoch. Und ganz hinten, vor schweren Schiebeschränken, sitzt eine Frau auf dem Boden und legt Seite um Seite von einem der beiden verbliebenen Bände der "Description" auf Seidenpapier.

Es ist ein Bücherlazarett. "Es ist eine Katastrophe", sagt el-Hady. Aber auch eine humanitäre Leistung, findet er, ähnlich wie damals im Januar, während des Aufruhrs gegen Hosni Mubarak, als eine Menschenkette das Ägyptische Museum nach einem Einbruch beschützte. Soldaten und Demonstranten, Ägypter und Ausländer, Alt und Jung hatten verkohltes Papier aus dem brennenden Institut geschleppt, erzählt er: "Einige wurden verletzt, ihr Blut ist nun auf diesen Seiten."

Es ist kein Totalverlust, zumindest nicht, was die "Description" angeht, diesen Versuch der fast fotorealistischen Abbildung eines ganzen Landes. Es gibt andere Originalausgaben in Ägypten, drei in der Bibliothek von Alexandria, zwei in el-Hadys Bibliothek, andere in der Universität Kairo.

Ausdruck einer gewissen Vernachlässigung

Aber tröstet das Wissen um den verbliebenen Rest etwa über den Verlust einer Mauritius hinweg? Scheich Sultan al-Qassemi, der Emir von Schardscha, hat versprochen, die Verluste mit Bänden aus seiner eigenen erlesenen Privatbibliothek auszugleichen.

Aufbauarbeiten am Institut d'Égypte in Kairo; Foto: AP
Den Flammen zum Opfer gefallen: 50.000 Einheiten konnten zwar noch unbeschadet aus dem Institut geborgen werden, einige in passablem Zustand, andere sind jedoch schwer zerstört. Derzeit beginnt der mühselige Wiederaufbau des Instituts.

​​Es ist das demütigend großzügige Angebot eines kulturellen Emporkömmlings an ein Land, das auf eine glanzvolle 7000-jährige Geschichte blickt, aber mit den Härten der Gegenwart ringt: "Wir sind ein Drittweltland", sagt el-Hady grausam selbstkritisch: "Es gibt 1.460 Elendsviertel in Ägypten. Wenn wir die hungrigen Mäuler gestopft haben, können wir über Kultur reden."

Das Institut und die "Description de l'Égypte" waren ebenso wie Napoleons dreijähriges Ägyptenabenteuer insgesamt Ausdruck großer Neugier und eines großen Missverständnisses. Frankreich verfolgte am Nil geopolitische Ziele - gegenüber dem britischen Rivalen -, aber auch kulturelle: Die französischen Gelehrten reisten "mit dem doppelten Ziel an, Ägypten zu studieren und die Ägypter mit der Überlegenheit der französischen Zivilisation zu beeindrucken", schreibt der Historiker Eugene Rogan. Ägypten war Napoleons "zivilisatorische Mission".

Die Ägypter hingegen - obwohl erschüttert durch die neuen technischen Möglichkeiten, über den Schock der westlichen Besatzung, gaben sich äußerlich unbeeindruckt. Als die Franzosen einen Montgolfier-Ballon aufsteigen ließen, der bald darauf abstürzte, schüttelten sie verächtlich die Köpfe, berichtet Rogan.

Nachdem französische Wissenschaftler aufwendige Experimente mit Chemikalien und Strom vorführten, fragte ein Scheich, ob sie denn auch eine Methode wüssten, ihn "gleichzeitig hier und in Marokko" sein zu lassen. Als der Franzose verneinte, entgegnete der Ägypter verächtlich: "Ah, dann ist er also doch kein so guter Zauberer."

Niemand hat Zeit für Bibliotheken

Aber der Brand im Institut d'Égypt ist keine postkoloniale Abrechnung, eher schon Ausdruck einer gewissen Vernachlässigung für das Institut, das erst in Kairo, dann in Alexandria, dann wieder in Kairo seinen Sitz hatte. Früher, zu Zeiten des Königs, unterstand es dem Monarchen direkt. "Die Bewirtschaftung von 160 Feddan Land um das Gebäude diente einzig dem Zweck, das Institut zu finanzieren", so el-Hady.

Präsident Gamal Abdel Nasser aber ließ es enteignen, heute werde es von einer unabhängigen Organisation geführt, zwar kämen hin und wieder Studenten, aber der präzise Bestand vor dem Brand war unbekannt: "Es gibt nicht mal einen richtigen Bibliothekar."

Und überhaupt: Seit zehn Monaten ist das Land aus dem Gleichgewicht. Intellektuelle, Kulturschaffende, Literaten diskutieren die Zukunft in Cafés, Parteien, Medien. Niemand hat Zeit, in Bibliotheken zu sitzen oder Archive zu pflegen, wo sich die politische Landschaft in schwindelerregendem Tempo wandelt. Sein Abd el-Hady ist seit fünf Monaten im Amt. Nach ägyptischen Maßstäben ist das lange.

El-Hady hat Listen des Bestandes, soweit bekannt, an "Rare books"-Datenbanken geschickt, falls einige Werke irgendwann auf dem Schwarzmarkt auftauchen. Die Restaurierung wird Jahre dauern und Millionen verschlingen, die das Land nicht hat. Brandgeruch liegt über seinem Haus. Von den Fetzen im Vorgarten weht der Wind die Asche auf die Straße zum Nil.

Sonja Zekri

© Süddeutsche Zeitung 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de