Erdogan stemmt sich gegen ''zivilen Putsch''

Der türkische Ministerpräsident will den Demonstranten im Land die Stirn bieten: Für das Wochenende plant er in Istanbul und Ankara große Kundgebungen. In der Hauptstadt wählte er einen sehr symbolischen Ort dafür aus. Von Ayhan Simsek

Von Ayhan Simsek

Recep Tayyip Erdogan hat schon zu Beginn der Proteste im Istanbuler Gezi-Park deutliche Worte gefunden. Ende Mai bezeichnete er die Demonstranten als Verbrecher und Extremisten.

Vor kurzem verschärfte er seinen Ton noch. Er beschuldigte die Aktivisten, sich gegen die Regierung zu verschwören. Sie würden das Land absichtlich ins Chaos stürzen, um ihn zu Fall zu bringen. Nun versucht der türkische Ministerpräsident, mit eigenen Kundgebungen gegenzusteuern - und zwar ausgerechnet im Ankara-Vorort Sincan. In der türkischen Presse wird bereits darüber spekuliert, ob der Ort mit Absicht gewählt sein könnte.

"Sincan war das Symbol der Zeit des 28. Februar", sagt Utku Çakırözer, Journalist der Tageszeitung "Cumhuriyet". Am 28. Februar 1997 wurde Sincan zum Sinnbild für die letzte große militärische Einmischung in der Türkei. Was dort geschah, wurde bekannt als "postmoderner Putsch" und "Prozess des 28. Februar".

Damals starteten die Militärs eine Kampagne gegen die islamisch geprägte Regierung von Necmettin Erbakan. Dazu schickten sie auch Panzer in die Straßen von Sincan. Der Militärputsch führte schließlich dazu, dass Premierminister Erbakan und seine Regierung abdankten.

Polizei gegen Militär?

Hochsicherheitsgefängnis Sincan bei Ankara; Foto: Adem Altan/AFP/Getty Images
Hochsicherheitsgefängnis Sincan bei Ankara: Dort begann vor rund 16 Jahren der Militärputsch gegen den damaligen islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan.

​​"Bisher war es immer so, dass der übliche Verdächtige bei Putschversuchen die türkische Armee war", meint Omer Sahin von der Tageszeitung "Radikal". Heute sitzen die Strippenzieher des Putsches von damals in einem Gefängnis in Sincan ein, darunter auch hochrangige Generäle. Seitdem im Jahr 2011 General Necdet Ozel Militärchef ist, hat sich das Militär aber nicht mehr öffentlich zur Innenpolitik geäußert. Stattdessen tauschen sich Militär und Regierung hinter verschlossenen Türen aus.

Utku Çakırözer, der für "Cumhuriyet" aus Ankara berichtet, glaubt, dass sich diese Vorgehensweise bewährt hat. "Deshalb hören wir wohl auch nichts vom Militär zu den aktuellen Protesten", meint er. Çakırözer glaubt, die Armee sei sehr besorgt, dass es einen Schlagabtausch zwischen Polizei und Militär geben könnte.

"Am ersten Tag der Proteste hat das Militär einigen Demonstranten in Armee-Niederlassungen geholfen." Ein Militärkrankenhaus habe zum Beispiel Atemschutzmasken aus der Chirurgie verteilt, die gegen Tränengas schützen sollten. Flüchtende Aktivisten hätten auch Schutz in einer Einrichtung des Militärs gefunden, und auf einer Militärbasis habe es ein Handgemenge zwischen Soldaten und Polizisten gegeben.

"Diese Vorfälle haben einigen ranghohen Militärs offenbar Angst gemacht", meint Çakırözer. "Kurz darauf wurde alles daran gesetzt, Militärpersonal von den Demonstrationen fern zu halten." Den Wehrdienstpflichtigen sei es offenbar sogar verboten worden, am Wochenende nach Hause zu fahren, damit sie nicht mit der Polizei aneinander geraten.

Ein "ziviler Putsch"

Doch Erdogans jüngste Reden deuten darauf hin, dass er das Militär momentan nicht für die Hauptbedrohung für seine Regierungspartei AKP hält. "Er sieht in den Gezi-Park-Protesten ein Komplott, das ihn stürzen soll. Eine Verschwörung, die sowohl in- und ausländische als auch wirtschaftliche Dimensionen angenommen hat", so Utku Çakırözer.

Der türkische Ministerpräsident Erdogan; Foto: Reuters
Konfrontation statt Dialog: Der türkische Ministerpräsident Erdogan hatte die Demonstranten mehrfach als "Gesindel" bezeichnet, ihre Forderungen seien haltlos und unbegründet. Zuletzt warnte er, dass seine Geduld bald ein Ende haben könnte.

​​Das sieht Omer Sahin von der Zeitung "Radikal" ähnlich. Die Sprache, die jetzt benutzt wird, um die Proteste zu beschreiben, habe eine neue Prägung bekommen: "Die AKP spricht jetzt von einem 'zivilen Putsch'. Der Premierminister glaubt, dass bestimmte Lobbygruppen es auf ihn abgesehen haben, wirtschaftliche Gruppierungen, Banken, die sich einen Vorteil erhoffen." Die Demonstranten würden manipuliert und als Marionetten missbraucht. Sahin betont, dass niemand ernsthaft glaube, dass diesmal das Militär dahinter steckt.

Einige Analysten vermuten, dass die zunehmenden innenpolitischen Spannungen ein Kalkül des Premierministers sein könnten. "Erdogan will das Land polarisieren. Durch die Demonstrationen will er die Basis seiner Partei wieder vereinen", vermutet Çakırözer. Erdogan hoffe auf einen herausragenden Sieg bei den nächsten Wahlen im März 2014.

Im Ankara-Vorort Sincan kann er zumindest auf breite Unterstützung bauen. Dort wohnen viele Anhänger seiner Partei. Die AKP wird die Kundgebung in Sincan nutzen, um Stärke zu zeigen und um zu beweisen, dass sie den Demonstranten auf dem Taksim-Platz und den Hunderttausenden weiteren Aktivisten im Rest des Landes etwas entgegenzusetzen hat.

Ayhan Simsek

© Deutsche Welle 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de