Bundestagswahl heizt Streit mit der Türkei weiter an

Ein Boykottaufruf, heftige Wortgefechte und Forderungen nach dem Abbruch der EU-Beitrittsgespräche: Noch nie hat eine Abstimmung in Deutschland derart hohe Wellen in der Türkei geschlagen wie die anstehende Bundestagswahl. Und noch nie hat das Verhältnis zur Türkei so sehr den deutschen Wahlkampf bestimmt. Viele hoffen nun auf eine Entspannung der Beziehungen nach dem 24. September, doch ist dies eher unwahrscheinlich.

Mitte August rief Präsident Recep Tayyip Erdogan "alle meine Bürger in Deutschland" auf, bei der Wahl SPD, CDU und Grüne zu boykottieren, da sie "Feinde der Türkei" seien. Die Bundesregierung verbat sich umgehend diese Einmischung in die "inneren Angelegenheiten" und sprach von einem "einmaligen Eingriff in die Souveränität".

Der Boykottaufruf bedeutete eine zusätzliche Belastung der Beziehungen, die wegen der Inhaftierung mehrerer Deutscher und der zunehmenden Einschränkung der Bürgerrechte in der Türkei sowie Vorwürfen Ankaras, die Bundesrepublik beschütze flüchtige Putschisten und kurdische Separatisten, ohnehin in einer beispiellosen Krise stecken.

Yunus Ulusoy glaubt nicht, dass Erdogans Boykottaufruf große Auswirkung auf die Entscheidung türkischstämmiger Wähler haben wird. "Die Empfehlung Erdogans wird nur die Gruppe der Deutsch-Türken beeinflussen, die sich sehr stark von ihm steuern lässt", sagt der Forscher vom Zentrum für Türkeistudien in Essen. Und die sei nicht sehr groß.

Auch die Gesamtzahl der türkischstämmigen Wähler sei so gering, dass ihr Einfluss auf den Ausgang der Wahl "komplett zu vernachlässigen" sei. Schätzungen gehen von 0,7 bis 1,2 Millionen Wählern mit türkischem Hintergrund aus. Einen Gefallen habe Erdogan den Deutsch-Türken mit seiner Intervention aber nicht getan, glaubt Ulusoy.

Studien zufolge stimmen die türkeistämmigen Wähler in Deutschland traditionell vor allem für die SPD und andere linke Parteien. Wen sie nun laut Erdogan wählen sollen, ist unklar. Zwar gibt es mit der BIG und der ADD zwei Erdogan-nahe Parteien, doch boykottiert die eine die Bundestagswahl, und die andere tritt nur in Nordrhein-Westfalen an.

Hans-Georg Fleck sieht Erdogans Verhalten vor allem innenpolitisch motiviert. Der Präsident lebe von der ständigen Polarisierung und Zuspitzung, sagt der Leiter des Büros der Friedrich Naumann Stiftung in Istanbul. Er brauche die Konfrontation mit Deutschland, um die Reihen zu schließen und seine eigenen Anhänger hinter sich zu halten.

Vermutlich habe Erdogan aber weniger aus taktischem Kalkül, als aus einem "Bauchgefühl" heraus agiert, meint Fleck. Die Vorstellung, dass das Ausland den Türken schaden will, sei tief verwurzelt in der Türkei, und Erdogan sei wohl wirklich überzeugt, dass Deutschland bewusst die Gegner der Türkei beschütze und gegen die Interessen des Landes arbeite.

Diese Idee wurde noch bestärkt durch die Ankündigung von SPD-Chef Martin Schulz, im Fall seiner Wahl die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei zu beenden. Mit dieser Position im TV-Duell konfrontiert, sprach sich auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) für den Abbruch der Beitrittsgespräche aus, doch ist unwahrscheinlich, dass es in der EU dafür eine Mehrheit gibt.

Auch sonst spielte der Umgang mit der Türkei und vor allem mit Erdogan eine wichtige Rolle im deutschen Wahlkampf. Angesichts der parteiübergreifenden Kritik  an dem islamisch-konservativen Staatschef warfen türkische Zeitungen den deutschen Politikern vor, Wahlkampf auf dem Rücken der Türkei zu machen. Doch tat Ankara mit der Festnahme weiterer Deutscher auch wenig, um diese Kritik zu entkräften.

Die Erwartung Erdogans, dass sich nach der Wahl alles beruhigt, dürfte auf jeden Fall kaum erfüllt werden. Schließlich hat er genau die Parteien vor den Kopf gestoßen, mit denen er nach der Wahl zusammenarbeiten muss, wie Fleck bemerkt. Zwar heize der Wahlkampf die Auseinandersetzung zusätzlich an, doch würden die Spannungen bleiben - egal, wer die Wahl in Deutschland gewinnt. (AFP)

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