Die Islamisten werden undemokratisch regieren

In den arabischen Revolutionsstaaten kommt es zu einer gefährlichen Verbindung von Islamismus und Nationalismus, fürchtet der renommierte algerische Schriftsteller Boualem Sansal. Als Konsequenz fordert er eine Mittelmeerunion.

Von Boualem Sansal

Es ist nicht zu leugnen: Wir sind beunruhigt. Vor unseren Augen bricht ein neues Zeitalter an, und wir verstehen weder, was uns erwartet, noch die möglichen Entwicklungen. Zwar gibt es noch andere Beispiele, doch auch die sind nicht alle ermutigend. Andere Länder, etwa der Iran, die Türkei, Afghanistan oder Somalia, haben ebenfalls den Weg des Islamismus gewählt. Und dennoch ist die arabische Erfahrung einzigartig. Sie erschreckt uns, weil sie so gewaltig und so inkohärent ist.

Alle arabischen Länder sind geschlossen in den Islamismus abgeglitten, obschon wir während ihres mutigen Aufstands gegen die Diktatoren die Rufe nach Demokratie und Unterstützung durch die freie Welt weithin vernommen haben. Hat es uns am nötigen Urteilsvermögen gemangelt oder haben wir gar etwas Wichtiges verpasst? Tatsache ist: Die arabische Welt entzieht sich unserem Verständnis.

Der Islamismus hat eindeutig eine wichtige Partie für sich entschieden: Er beansprucht nun seinen Platz, er regiert Staaten, kontrolliert eine Bevölkerung von 350 Millionen Menschen – die in Europa lebenden Migranten und die afrikanischen Nachbarn, die er unter seinen Einfluss bringen kann, nicht mitgezählt. Er hat auch andernorts Brückenköpfe und besitzt die Legitimität der Wahlurnen, die ihm internationale Anerkennung einbringt.

Sollte es ihm in Zukunft gelingen, diese Staaten in einer soliden islamistischen Union zu vereinen, die an die Stelle der lächerlichen Arabischen Liga tritt, wird er es weit bringen. Er könnte mit dem Gedanken spielen, das mythische Dar al-Islam, das Haus des Islam, wieder zu errichten, das einst die arabische Welt regierte.

Algerien als Teil der Bewegung

Und Algerien? Algerien bremst und bleibt doch gleichzeitig Teil der Bewegung. Die Macht korrumpiert, betrügt, unterdrückt, terrorisiert, fördert den informellen Sektor und den kulturellen Rückschritt.

Unterstützer der FLN, Foto: dpa
Unerwarteter Wahlerfolg: Die Nationale Befreiungsfront (FLN) des langjährigen Präsidenten Bouteflika hatte die Parlamentswahlen im vergangenen Mai klar für sich entschieden. Sie gewann 208 von insgesamt 462 Sitzen im Parlament.

​​Bei den Parlamentswahlen vom 10. Mai ist ihr ein weiteres Meisterstück geglückt, nämlich dafür zu sorgen, dass genau die Partei gewählt wird, die den Algeriern am meisten verhasst ist: die FLN, die frühere Einheitspartei, die ihr Land ausgeraubt und ihr Leben zerstört hat. Die als Favoriten gehandelten Islamisten haben am schlechtesten abgeschnitten. Sie beteuern, man habe ihnen wie 1991 den Sieg gestohlen. Ein weiterer Bürgerkrieg zeichne sich ab.

Was wissen wir von den Regierungsmethoden der Islamisten, die aus dem Arabischen Frühling hervorgegangen sind? Werden sie den Erwartungen des Volkes gerecht werden? Natürlich nicht – die einzige Wahl für einen Muslim ist der Islam. Und wenn die Demokratie ihn davon abhält, ist sie ein Verbrechen gegen den Islam.

Auf der politischen Ebene werden sie der Tradition folgen, sie werden sich mit allen Mitteln an der Macht halten und nur innerhalb der Regeln des Islam einen Machtwechsel zulassen. Auf der wirtschaftlichen Ebene werden sie den informellen Sektor fördern, den sie bereits teilweise kontrollieren. Auf den Straßen werden sie die islamistischen Moralvorstellungen durchsetzen.

Als erste werden die Frauen ins Visier genommen. Die Situation von Christen, Intellektuellen und sozialen Randgruppen wird sich wie in Algerien und Ägypten verschlechtern, wo Verfolgung bereits um sich greift. Die Beziehungen zum Westen werden schwierig sein. Die Islamisten machen die Unversöhnlichkeit ihm gegenüber zu einer Säule ihres Glaubens.

Eine neue arabisch-islamische Identität

Der siegreiche Islamismus und der arabische Nationalismus werden sich gegenseitig befruchten und eine neue Identität stiften. Bald wird sich eine Kaste strahlender und sagenumwobener Würdenträger herausbilden.

Salafisten demonstrieren in Kairo; Foto: ddp/AP
Der politische Islam auf dem Vormarsch: "Der Islamismus hat eindeutig eine wichtige Partie für sich entschieden: Er beansprucht nun seinen Platz, er regiert Staaten und kontrolliert eine Bevölkerung von 350 Millionen Menschen", meint Sansal.

​​Der Stolz, endlich die arabisch-islamische Identität vollständig wiedererlangt zu haben, wird gemeinsam mit der unaufhörlichen Kritik an der Verachtung des Westens gegenüber den Arabern im Zentrum der offiziellen Propaganda stehen. Dieser Diskurs führt dazu, dass Regime und Gesellschaft faschistoide Züge annehmen. Der Prozess hat bereits begonnen.

Wie könnte eine Lösung aussehen? Vielleicht so: ausgehend vom Mittelmeer, das bei genauer Betrachtung im Zentrum des Problems steht, ein großes, einendes Projekt in die Tat umsetzen.

Das Mittelmeer ist irritierenderweise nicht eindeutig definiert: Ist es eine Handelszone, eine Kriegszone, eine Grenze zwischen zwei unvereinbaren Welten? Im Norden errichtet Europa Mauern, um sich vor illegaler Einwanderung und der als aggressiv empfundenen islamischen Missionierung zu schützen.

Im Süden rüstet die arabische Welt den Islam und die Tradition auf, um sich gegen das Herüberschwappen westlicher Kultur und die Ansteckung mit dem Virus der Demokratie zu wappnen.

Terrorismus, Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen, immer neue diplomatische Krisen sind verschiedene Ausprägungen dieses grundsätzlichen Gegensatzes. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist ein weiterer Ausdruck davon. Die USA und China können daran nichts ändern – ihnen ist diese Welt fremd.

Es ist eine Angelegenheit der Anrainer, die lernen müssen zusammenzuleben. Eine Mittelmeerunion, die auf beiden Seiten von Menschen mit Weitblick gelenkt wird – gepaart mit einem umfassenden Marshall-Plan –, wäre eine gute Arbeitsgrundlage.

 

Boualem Sansal

© ZEIT ONLINE 2012


Boualem Sansal, Jahrgang 1949, ist ein frankophoner algerischer Schriftsteller. Im Oktober 2011 wurde Sansal mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Sein Beitrag ist Teil einer Reihe über die neuen Akteure in den Transformationsstaaten der arabischen Welt, die ZEIT ONLINE in Zusammenarbeit mit der Körber-Stiftung veröffentlicht.