Bomben unter dem Schleier - Die islamistische Terrorgruppe Boko Haram opfert Frauen für ihren Krieg

Der Markt im Zentrum von Maiduguri war voller Menschen, wie jeden Samstag. Frauen drängten sich um die Stände der Millionenstadt im Nordosten Nigerias, um Vorräte für die neue Woche einzukaufen. Als der Sprengsatz am 10. Januar detonierte, gab es in der Menge viele Opfer: Mehr als 20 Menschen starben, unter ihnen die Selbstmordattentäterin. «Die Identität ließ sich nicht mehr feststellen», sagt später ein Sprecher des örtlichen Hospitals. «Aber die Täterin war sehr jung: ein junges, hübsches Mädchen.»

Auf zehn Jahre schätzen die Behörden die bislang jüngste Attentäterin, die die Terrororganisation Boko Haram in ihrem Kampf gegen den nigerianischen Staat eingesetzt hat. Es werden mehr. Ein Dutzend Frauen hat sich seit Juni vergangenen Jahres für den angeblich heiligen Krieg im Norden Nigerias in die Luft gesprengt. Ihr Tod ist Teil einer zweigeteilten Strategie. Während die Männer mit Panzern und Artillerie auf das Schlachtfeld ziehen wie eine reguläre Armee - zuletzt am vergangenen Wochenende in Maiduguri - verbreiten die Frauen und Mädchen mit ihren Bomben am Leib Angst und Schrecken.

«Dass Mädchen und Frauen zu Selbstmordattentäterinnen werden, ist bei islamistischen Gruppen absolut unüblich», sagt die Ethnologin Susanne Schröter, Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam. Zwar hätten die palästinensische PLO schon früh Frauen integriert - und islamistische Terrorgruppen im ehemals sowjetischen Tschetschenien. «Ansonsten ist das ungewöhnlich, weil Frauen aufgrund der scharfen Trennung der Geschlechterrollen nicht zu den Kämpferinnen gezählt werden.»

Die Entführung von mehr als 240 Schülerinnen aus einem Internat hatte Boko-Haram-Chef Abubakar Shekau nicht zuletzt damit begründet, dass Frauen jenseits von Haushalt und Familie nichts zu suchen hätten. Dass dennoch eine wachsende Zahl Frauen Selbstmordattentate für Boko Haram verübt, wertet die US-Sicherheitsexpertin Mia Bloom denn auch als Zeichen der Schwäche.

Frauen würden vor allem gegen weiche Ziele eingesetzt, wo sie weniger auffielen als Männer: «Terrorgruppen, die Frauen engagieren, machen das, weil sie an harte Ziele nicht herankommen – oder schlicht, weil sie nicht genügend Männer zusammenbekommen.»

Frauen, die sich für den Dschihad opfern, motivieren nach Blooms Ansicht Männer, sich Terrorgruppen wie Boko Haram anzuschließen – und sei es aus Scham. Ein günstiger Nebeneffekt. Angeblich soll Boko Haram 50 Selbstmordattentäterinnen ausgebildet haben. Das behauptet eine der Bürgerwehren in Maiduguri, die im Dezember eine der Bombenlegerinnen überwältigten. Demnach sollen die Frauen den Auftrag bekommen haben, gemeinsam 100.000 Menschen zu töten. Schwäche sieht anders aus.

Und auch sonst ist Boko Haram so erfolgreich wie nie, kontrolliert in Nord-Nigeria bereits ein Gebiet von der Größe Belgiens, in dem sie einen Kalifatsstaat errichten will. Die Frankfurter Professorin Schröter verweist daher auch auf andere Motive, die Frauen in der Vergangenheit zu Täterinnen gemacht haben.

«Oft handelte es sich um Frauen in sozialen Konflikten, denen das Selbstmordattentat als ein ehrenvoller Ausweg aus ihrer Schande verkauft wurde.» Dass sich viele Frauen nicht freiwillig in die Luft sprengen, sondern von Männern unter Zwang zu lebenden Bomben gemacht werden, ist eine weitere traurige Wahrheit.

Auch Geld spielt eine Rolle: den vier Kindern ihres ersten Selbstmordattentäters soll Boko Haram fast 25.000 US-Dollar gezahlt haben: Geld für eine Zukunft, die der arme Mann seinen Kindern in Nigeria, wo nur Reiche Chancen haben, niemals hätte bieten können.

Seit Monaten ist in den sozialen Medien zudem ein wahrer Wettlauf der Gewalt zu beobachten. Dass selbst ein zehnjähriges Kind in die Luft gesprengt wird, sieht Schröter als einen traurigen Höhepunkt dieses Propagandakriegs. «Damit ist jede Grenze überschritten.»

Woher die Kinder kommen, die sich für Boko Haram töten, bleibt indes ungewiss. Dass es sich um entführte Kinder, etwa Mädchen aus Chibok handelt, gilt als möglich. Andere behaupten, es seien Straßenkinder, die aus Städten verjagt wurden und somit eigene Rachemotive haben. Schließlich könnte es sich auch um Kinder von Boko-Haram-Kämpfern handeln, die vom ersten Tag an indoktriniert wurden. Fest steht: Seit Frauen und selbst kleine Mädchen potenzielle Attentäterinnen sind, ist die Angst im Norden Nigerias größer als je zuvor. Die Skrupellosigkeit zahlt sich für Boko Haram aus. (Marc Engelhardt/epd)