Betteln statt Lernen und Beten - Im Senegal stehen traditionelle Koranschulen in der Kritik

Es sollen Schulen der Armut und der Demut sein: Die Marabuts in Westafrika wollen muslimische Kinder im Glauben unterweisen, sie arbeiten und beten lehren. Doch manche beuten die ihnen anvertrauten Jungen aus und misshandeln sie. Von Odile Jolys

Als kleiner Junge musste Bakary Sambe in den Straßen betteln gehen, um für seinen Unterhalt zu sorgen. Er war ein Talibé, wie die Schüler von Koranschulen im Senegal genannt werden. Auch heute ziehen Talibés mit Plastikschüsseln und Blechdosen durch die Städte des westafrikanischen Landes. Allein in der Vier-Millionen-Metropole Dakar sollen es nach amtlichen Schätzungen 30.000 junge Bettler sein. Im islamischen Fastenmonat Ramadan, der bis Anfang Juli dauert, hoffen sie besonders auf milde Gaben.

«Freitags verkaufte ich am Bahnhof Pfefferminzblätter», erinnert sich Sambe, der Politikprofessor an der Universität Saint-Louis geworden ist, an die Zeit vor 40 Jahren. «Somit konnte ich Seife kaufen, mich und meine Kleider waschen. An den anderen Tagen ging ich auf die Felder.» Da war er fünf Jahre alt.

Sein Vater schickte ihn in eine Daara, eine Koranschule. Er lebte dort unter der Obhut eines Marabuts, eines religiösen Führers im Sufismus, der verbreiteten Form des sunnitischen Islams im Senegal. «Bei Morgendämmerung ging es zum ersten Gebet und dann wurde der Koran gelernt», sagt Sambe. Auch auf den Feldern des Marabuts waren die Gebetstafeln dabei. «Abends wieder das Gebet und dann Religionsunterricht. Vor 22 Uhr waren wir nicht im Bett», fügt er hinzu.

Es war der Wille seines Großvaters gewesen, der Imam war. Der Enkel sollte die Schule der Armut und der Demut besuchen, arbeiten und beten. Und nicht zur «französischen Schule» gehen, wie die öffentlichen Schulen bis heute im Senegal genannt werden, die Schule der christlichen Kolonisatoren.

Heute gibt es noch Tausende Daaras im Senegal, aber auch in den benachbarten Ländern Guinea, Gambia und Mali. Manche Eltern mögen erleichtert sein, ein Kind weniger ernähren zu müssen, und glauben es bei einem Marabut gut aufgehoben. Meist sind es Jungs, die weggegeben werden. Gute Koranschulen leben von den Spenden der Eltern und der Gemeinden, die Kinder werden dort gut behandelt. 94 Prozent der rund 14 Millionen Senegalesen sind Muslime, fünf Prozent Christen.

Misshandlungen und Ausbeutung sind aber weit verbreitet. Bettelnde Jungen, dreckig und ärmlich gekleidet, prägen das Bild der Städte im Senegal. Abibatou Mbengue, Vorsitzende des Vereins «Die Mütter der Daaras» im Zentrum Dakars, beklagt: «Heute müssen viele Talibés betteln und ihrem Marabut jeden Abend Geld bringen.» Einige würden misshandelt, wenn die Summe zu mager ist. «Es bleibt auch keine Zeit und Kraft mehr, um den Koran zu lernen.»

Viele Talibés flüchten, schlagen sich als Straßenkinder alleine durch. Wie der etwa 14-jährige Junge in einem Trikot der senegalesischen Fußball-Nationalelf in Dakar. Er kommt aus Gambia, und seine Kumpel nennen ihn Yahya Jammeh nach dem Präsidenten des Nachbarlandes. Er selbst will Namen und Alter nicht verraten. Warum er seine Daara verlassen hat? «Es gab Probleme», sagt er nur.

2005 wurde ein Gesetz verabschiedet, das das Betteln von Kindern verbietet. Aber der Staat setzt es nicht durch. Mbengue versucht, einen alten Brauch wiederzubeleben: «Früher waren Talibés einer Familie zugewiesen, die sich um sie gekümmert, ihnen Essen gegeben und die Wäsche gewaschen haben. Diese Solidarität wollen wir wieder üben.»

Es ist aber schwierig, den Marabuts, die Kinder zum Betteln schicken, das Handwerk zu legen. «Wir reden mit ihnen, versprechen ihnen Reis und schlagen vor, ihre Räume zu renovieren», erklärt die 64-Jährige, deren Verein von US-Entwicklungshilfe unterstützt wird. Oft schlafen die Kinder zu Dutzenden in engen schlecht gelüfteten Räumen und leiden unter Haut- und Atemwegserkrankungen.

Im Jahr 2013 brannte in der Medina, unweit des Zentrums, eine heruntergekommene Daara. Neun Kinder starben. Im Februar 2016 wurden 20 Talibés in der Stadt Diourbel gefesselt aufgefunden. In beiden Fälle wurden die verantwortlichen Marabuts nicht belangt. In den Koranschulen wird auch das Lesen und Schreiben in der Amtssprache Französisch in der Regel nicht gelehrt.

Professor Sambe aber hatte Glück. Dank einer Tante durfte er mit acht Jahren neben der Daara auch eine öffentliche Schule besuchen. Er und seine Frau unterstützen heute einen Talibé. Er geht also nicht mehr betteln? «Doch das tut er trotzdem», muss der Mann zugeben, der von einem Magazin zu den 50 wichtigsten Intellektuellen Afrikas gezählt wurde. (epd)