Bagdad am Abgrund: Iraks politischem System droht der Kollaps

Massendemonstrationen und ein Sturm auf das Parlament stürzen den Irak ins Chaos. Im Vordergrund geht es um Reformen, im Hintergrund tobt ein Machtkampf. Davon profitiert vor allem die IS-Terrormiliz. Von Jan Kuhlmann

Eigentlich hat der Irak bereits mit genug Problemen zu kämpfen. Noch immer kontrolliert die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) große Teile des Landes. Obwohl die Armee zuletzt einige Erfolge vermelden konnte, kommt der Kampf gegen die Extremisten nur schleppend voran, weil es dem Militär an Schlagkraft fehlt.

Der niedrige Ölpreis hat das Land zudem in eine massive Finanzkrise gestürzt. Als wäre all das nicht genug, droht dem Irak seit dem Wochenende ein Zusammenbruch seines politischen Systems.

Es waren chaotische Szenen, die sich am Samstag im Zentrum der Hauptstadt Bagdad abspielten. Tausende wütende Anhänger des Schiitenpredigers Muktada al-Sadr stürmten die hoch gesicherte Grüne Zone, wo das Parlament, Ministerien und Botschaften liegen, abgeschottet vom Rest der Stadt.

Hunderte Demonstranten brachten das Abgeordnetenhaus über Stunden unter Kontrolle, Medien berichteten von Übergriffen auf Parlamentarier. Zurück blieben nicht nur Scherben und ramponiertes Mobiliar, sondern auch eine gelähmte Regierung.

Mit dem Sturm auf das Parlament erreichte eine Krise ihren Höhepunkt, die seit Monaten schwelt und die Politik in Bagdad blockiert. Im Vordergrund steht der Kampf gegen das Proporz- und Klientelsystem, das nach dem Sturz von Langzeitherrscher Saddam Hussein im Jahr 2003 durch die USA errichtet worden war. Es verteilt die Ministerien und Ämter in Bagdad auf die unterschiedlichen Gruppen und Parteien, was eigentlich im Sinne eines Machtgleichgewichts ist.

Allerdings verstehen die einflussreichen politischen Kräfte dieses System als Freifahrtschein, um die Posten in den Ministerien nicht mit Fachleuten, sondern mit Parteigängern zu besetzen - und sich und die eigene Klientel schamlos zu bereichern.

Geld steht der Regierung aufgrund des Ölreichtums im Prinzip ausreichend zur Verfügung. Bei den meisten Irakern kommt davon wenig an. «Weise» Staaten verteilten solche Ressourcen großzügig unter dem Volk, mahnt der US-Historiker Juan Cole: «Iraks Elite ist nicht weise.» Vor allem die Minderheit der Sunniten, aber auch viele Schiiten bekommen wenig vom Reichtum ab.

An die Spitze des Protests gegen dieses Klientelsystem hat sich mit dem schiitischen Prediger Muktada al-Sadr ausgerechnet eine der berüchtigsten politischen Figuren gesetzt.

Der 42-Jährige befehligte einst die Mahdi-Armee, die die US-Truppen im Land mit Gewalt bekämpfte. Jetzt ruft er seine Anhänger seit Monaten regelmäßig zu Protesten für Reformen auf die Straße. Wie nur wenige kann er die Massen mobilisieren, die er unter den armen Schiiten findet, weshalb die Demonstrationen auch als sozialer Protest zu verstehen sind.

Mit dem Sturm seiner Anhänger auf die Grüne Zone und das Parlament hat er den Druck auf den schiitischen Regierungschef Haidar al-Abadi massiv erhöht. Al-Sadr will den Protest fortsetzen, bis die Ministerposten nicht mehr mit Parteigängern, sondern mit Fachleuten besetzt sind.

Der Ministerpräsident hat ein solches Kabinett aus Technokraten sowie andere Reformen versprochen - war aber bislang zu schwach, um seine Pläne durchzusetzen. Die mächtigen Parteien leisten Widerstand, weil sie um ihren Einfluss und ihre Pfründe fürchten.

Im Hintergrund spielt sich zudem ein Machtkampf in der schiitischen Dawa-Partei ab, stärkste Kraft im Parlament. Ihr gehört neben Al-Abadi auch dessen Vorgänger Nuri al-Maliki an, der seit seinem unfreiwilligen Abtritt vor fast zwei Jahren an seiner Rückkehr an die Macht arbeitet.

Maliki wolle die Krise nutzen, um Al-Abadi zu Fall zu bringen, sagte Renad Mansour, Irak-Experte der Carnegie-Stiftung. «Sein Ziel ist es zu zerstören. Das ist die perfekte Gelegenheit.»

Für den Kampf gegen den IS hat der Machtkampf fatale Auswirkungen, weil die Regierung mehr mit ihrem eigenen Überleben als mit den Extremisten beschäftigt ist. Eine schnelle Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht. Eher dürfte sich die Lage noch verschlechtern. Der irakische Haushalt hängt zu rund 95 Prozent von den Öleinnahmen ab, die wegen des Ölpreisverfalls massiv gesunken sind.

Schon in wenigen Monaten, warnen Beobachter, könnte der Irak bankrott sein – Ergebnis eines jahrelangen Missmanagements der Finanzen und eines aufgeblähten Staatsapparates. Proftieren davon dürfte nur eine Gruppe: der IS. (dpa)