Der Krieg spaltet die Gesellschaft

Syriens Ex-Star-Moderatorin Honey Al-Sayed ist sicher, dass Assad stürzen wird. Doch sie befürchtet, dass es noch Jahre dauern wird, bis Versöhnung und Neuanfang in Syrien möglich sind.

Von Honey Al-Sayed

Manch einer mag denken, die arabische Welt sei nicht reif für die Demokratie. Blicken wir zunächst zurück: die arabische Geschichte ist auch die Geschichte tribaler Gesellschaften mit patriarchalischen Strukturen – eine wesentliche, wenn auch nicht die einzige, Voraussetzung für das Entstehen autokratischer Herrschaftsformen.

Dass wir Araber uns so lange von Diktatoren haben regieren und unterdrücken lassen, dürfte wohl auch mit diesem soziohistorischen Erbe zu tun haben. Aber nicht nur. Denn ebenso wie die Gier der arabischen Herrscher nach Macht und Ressourcen hat auch der Einfluss anderer Staaten den Fortbestand der Diktaturen für lange Zeit gesichert. Und wir, das Volk, zahlen wie immer die Zeche.

Auch wenn das Assad-Regime oder andere autoritäre Regierungen hier und da einen zaghaften Kurs der Öffnung verfolgt haben: diese Bemühungen gingen nie in die Tiefe. Die Korruption wucherte weiter. Die Wirtschaft schien zu boomen. Doch die Reichen wurden immer reicher, die Armen immer ärmer, und die Mittelschicht schrumpfte.

Nährboden für radikalen Wandel

Und die Demografie? In einer Region, in der die Bevölkerungen zu 60 Prozent aus jungen, häufig arbeitslosen, aber über das Internet mit der Welt verbundenen Menschen bestehen, tut sie ihr Übriges. All diese Faktoren bilden zusammengenommen den Nährboden für radikalen Wandel. Und die Furcht vor den Diktatoren? Sie hat sich allmählich aufgelöst.

Proteste gegen Baschar al-Assad in Yabroud, Foto: Reuters
Ohne Rücksicht auf Verluste: "Auch wir Syrer sind inzwischen furchtlos", sagt die syrische Ex-Moderatorin Honey al-Sayed. Trotz der zahlreichen Toten im syrischen Bürgerkrieg gehen die Menschen trotzdem auf die Straßen und demonstrieren gegen das Assad-Regime.

​​Auch wir Syrer sind inzwischen ziemlich furchtlos. Millionen von Menschen in den Städten und auf dem Land verleihen ihrer politischen Meinung Ausdruck – aktiv, mutig und ohne Rücksicht auf Verluste.

Ihre Stammeszugehörigkeit spielt dabei oft eine entscheidende Rolle, auch wenn es darum geht, die politische und bewaffnete Opposition gegen Assad zu mobilisieren oder aber paramilitärische Kräfte zur Unterstützung des Regimes zu organisieren.

Unabhängig von ihrer Stammeszugehörigkeit sehnen sich die Syrer nach Veränderung, nach Würde, Demokratie und Freiheit. Aber können wir echte Veränderungen bewirken? Von März 2011 bis heute haben mehr als 30.000 Syrer ihr Leben gelassen, damit wir, die Lebenden, die richtigen Entscheidungen treffen.

Aber werden wir dazu in der Lage sein? Werden wir den nächsten Diktator wählen – nach dem "Vorbild" der Islamischen Revolution im Iran? Oder werden wir uns für eine libanesisch-irakische Mischung entscheiden – religiös und ethnisch motivierte Gewalt inbegriffen? Wird Syrien nach Assad in seine Einzelteile zerfallen? Werden wir am Ende nach ägyptischem Modell einen Vertreter der Muslimbrüder zum ersten Mann im Staat wählen? Und wäre das wirklich eine schlechte Wahl?

"Versuch und Irrtum"

Wenn ein Volk beschließt, sich aus jahrelanger Unterdrückung zu befreien, dann sind viele Szenarien denkbar. Im Fall Syriens geben die allerwenigsten Anlass zur Zuversicht. Nein, der Übergang wird nicht leicht für Syrien. Es wird ein blutiger Prozess nach dem Prinzip "Versuch und Irrtum".

Kämpfer der Freien Syrischen Armee in Idlib, Foto: AP
Bewaffneter Widerstand, gespaltene Opposition: "Die Frage ist nicht, ob, sondern wann das Assad-Regime stürzt", so al-Syed. Daher bräuchte Syrien gerade jetzt eine geeinte Opposition.

​​Der Sturz eines Regimes ist nicht das Ende der Geschichte. Und die Frage ist nicht, ob, sondern wann das Assad-Regime stürzt. Wenn es fällt, wird es dafür sorgen, Syrien mit in den Abgrund zu reißen. Je länger sich das Assad-Regime also hält, desto größer wird der Schaden sein, den es hinterlässt: eine traumatisierte, durch den Bürgerkrieg zutiefst gespaltene Gesellschaft. Es wird Jahre dauern, bis die Wunden verheilt sind, bis Versöhnung und ein Neuanfang möglich werden.

Was wir jetzt brauchen, ist eine politisch geeinte Opposition – sowohl im Innern als auch nach außen. Eine klare Vision, strategische Planung, politisches Bewusstsein und wirkungsvolle interne, regionale und internationale Unterstützung sind ein Muss für ein freies, demokratisches Syrien nach dem Ende des Konflikts.

Identität und Neuanfang

In einem stabilen Staatsgefüge, dem Fundament für den Demokratisierungsprozess nach Assad, muss Platz sein für Säkularisten ebenso wie für moderate Islamisten, für die syrisch-arabischen Stämme und für religiöse und ethnische Minderheiten. Auf dieser Grundlage kann ein neues Syrien entstehen – ein starkes, freies, zivilisiertes Syrien, das sich der Welt und der globalen Wirtschaft öffnet.

Vergessen wir eines nicht: es gibt einen Grund dafür, dass Syrien über Jahrtausende die Wiege verschiedenster Zivilisationen war. 50 Jahre autoritäre Herrschaft mögen uns Würde, Anstand und Freiheit geraubt haben. Sie können uns jedoch nicht unsere Wurzeln, unsere Geschichte und unsere Identität nehmen.

Optimisten sagen voraus, das neue Syrien werde sich innerhalb eines Jahrzehnts herausbilden. Weniger zuversichtliche Beobachter gehen von Jahrzehnten der Instabilität aus.

Pessimisten bezweifeln gar, dass Syrien je wieder zu einem stabilen Land werden könnte. Den Pessimisten widerspreche ich nachdrücklich. Ob es nun zehn, dreißig oder vierzig Jahre dauert: Ich vertraue darauf, dass das syrische Volk am Ende wieder erhobenen Hauptes den Duft seiner Damaszener Rosen und Jasmin-Blüten atmen wird. Die Realität beginnt immer mit einem Traum. Und mit der Entschlossenheit, diesen Traum wahr werden zu lassen. An Entschlossenheit mangelt es den Syrern nicht.

Honey Al-Sayed

© ZEIT ONLINE 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Honey Al-Sayed moderierte bis Anfang 2012 eine beliebte Morgen-Show auf Al-Madina FM, Syriens erstem unabhängigen Radiosender. Vor acht Monaten entschied sie sich, Syrien zu verlassen. Sie lebt derzeit in den USA. Ihr Beitrag ist Teil einer Reihe, die ZEIT ONLINE in Zusammenarbeit mit der Körber-Stiftung veröffentlicht.