Können Araber Demokratie?

In den arabischen Staaten, die sich derzeit im Umbruch befinden, wird es politische Rückschläge geben. Demokratie aber lässt sich nicht vorher üben, etwa unter der Obhut einer Monarchie. Jan Kuhlmann argumentiert, warum wir den Menschen in der arabischen Welt nicht mit Misstrauen begegnen sollten.

Von Jan Kuhlmann

Die Frage kam überraschend - so hatte sie noch keiner gestellt. Als vor einiger Zeit Journalisten und Fachleute in Berlin bei einer öffentlichen Diskussion über die Lage in Ägypten nach dem Sturz Hosni Mubaraks diskutierten, meldete sich ein Zuhörer. Den Menschen am Nil fehle es ja an Erfahrung mit Demokratie, sagte er. Ob es da nicht besser sei, in Ägypten die Monarchie wieder einzuführen, die 1952 von den Generälen weggeputscht worden war?

Aus der Frage sprach ernsthafte Sorge, wie es nach dem Aufstand der Massen in der arabischen Welt weitergeht. Viele fürchten sich vor allem vor Islamisten, die in Ländern wie Ägypten oder Tunesien nach dem Vorbild des Iran oder Saudi-Arabiens eine strenge Herrschaft der Religion errichten könnten. Von einem "islamistischen Frühling" in der arabischen Welt ist mittlerweile die Rede.

Salafisten in Kairo; Foto: AP
Profiteure der Revolution vom 25. Januar? Das Wahlergebnis in Ägypten bestätigt viele Skeptiker in der Auffassung, dass nun ein Siegeszug der Religion begonnen hat.

​​Das Wahlergebnis in Ägypten bestätigt viele Skeptiker in der Auffassung, dass nun ein Siegeszug der Religion begonnen hat: Fast 50 Prozent haben die Muslimbrüder geholt, rund 25 Prozent die ultra-konservativen Salafisten. Ein Land vermeintlich fest in den Händen der bösen Bärtigen.

Misstrauen und Arroganz

Die Frage des Mannes verrät aber auch viel darüber, mit wie viel Misstrauen wir den Menschen in der arabischen Welt begegnen. Etwas direkter formuliert lautet sie: Können die da unten überhaupt Demokratie? Wenn man es genau nimmt, ist diese Frage unverschämt, ja sogar arrogant. Sie hält es nämlich für möglich, dass die da unten keine Demokratie können, dass die Menschen in der arabischen Welt also generell demokratieunfähig sind.

Das wiederum hieße: Sie können weder aus Erfahrungen lernen noch sich weiterentwickeln. Es gab schon einmal ein Land, dem man etwas Ähnliches unterstellt hat. Nach der Nazi-Diktatur waren viele überzeugt, die Deutschen seien zu einem friedlichen Zusammenleben mit ihren Nachbarn ungeeignet - weshalb sie besser in einem Agrarstaat leben sollten.

Glücklicherweise setzten sich damals diejenigen durch, die Deutschland einen Vertrauensvorschuss gaben. So sollten wir es auch mit der arabischen Welt halten. Wir sollten all diejenigen unterstützen, die sich daran gemacht haben, im Nahen Osten Demokratien zu errichten. Wie lange dieser Prozess dauern wird, lässt sich nicht sagen - sicherlich eher Jahrzehnte als Jahre.

Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi; Foto: AP
Hindernisse auf dem Weg zur Demokratie: In Ägypten wird der herrschende Militärrat unter Tantawi kritisiert, die Macht an sich gerissen zu haben und politische Reformen nicht umsetzen zu wollen.

​​Viele Hindernisse stehen im Weg: zum Beispiel das Militär. Ebenso die Strukturen der alten Diktaturen, religiöse Extremisten, nicht zu vergessen die enorme Armut. Es wird Rückschläge geben. Demokratie aber lässt sich nicht vorher üben, etwa unter der Obhut einer Monarchie. Wer so etwas glaubt, der ist naiv.

"Training on the job"

Erfahrungen mit der Demokratie und demokratischen Verfahren kann man nur machen, indem man sie praktiziert. Im Englischen würde man sagen: training on the job. Es kann sogar sein, dass die ersten Versuche scheitern. Aber auch das würde nicht heißen, dass die Araber demokratieunfähig sind – sie wären nicht die einzigen, die mehr als einen Anlauf brauchen.

Ob der richtige Zeitpunkt für eine Demokratie gekommen ist, hängt nicht davon ab, ob die Menschen Demokratie gelernt haben - sondern ob sie Demokratie wollen. So viel aber lässt sich sagen: Die Millionen von Arabern, die gegen ihre Diktatoren auf die Straße gegangen sind oder noch immer gehen, sie wollen Demokratie. Sie fordern Pluralismus, Gewaltenteilung und einen Rechtsstaat. Sie haben es satt, von einer korrupten Elite regiert zu werden.

Dass heißt übrigens nicht, dass sie sich alle von der Religion losgesagt haben. Im Gegenteil. Für die Mehrheit im Nahen Osten spielt der Islam eine wichtige Rolle in ihrem Leben - manche sind streng gläubig, andere verbinden mit der Religion nur bestimmte Werte und Traditionen. Das Wahlergebnis in Ägypten drückt die Einstellung der Menschen im Land sehr genau aus. Sie wollen keine Politik, die sich von der Religion völlig losgesagt hat. Der Islam soll den Referenzrahmen darstellen, an dem sich die Mächtigen zu orientieren haben.

Verbindung von Islam und Demokratie

Auch der Islam steht der Demokratie nicht per se im Weg, auch wenn das gerne und oft behauptet wird. Länder wie Tunesien und Ägypten haben sich auf die Suche nach einer Formel gemacht, die sie Demokratie und Islam miteinander verbinden lässt. Die Debatten darüber werden mit großer Leidenschaft geführt.

Moncef Marzouki, neuer Präsident Tunesiens; Foto: dpa
Vereinbarkeit von Islam und Demokratie: Der zum neuen Präsidenten gewählte tunesische Menschenrechtsaktivist Moncef Marzouki erklärte, die "Ennahda"-Partei vertrete einen moderaten Islamismus. Einer Zusammenarbeit mit ihr stünde daher nichts entgegen.

​​Nach dem starken Abschneiden der islamistischen Kräfte in Ägypten stellt sich die Frage, wie demokratiefähig diese sind. Bei den ultra-konservativen Salafisten sind, vorsichtig gesagt, erhebliche Zweifel angebracht. Es ist nicht zu erkennen, wie sich ihr Ruf nach einer strengen Form der Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung mit einem pluralistischen Rechtsstaat vereinbaren lassen soll.

Bei den Muslimbrüdern fällt die Antwort weniger eindeutig aus. Sie sind eine Massenorganisation, die bislang unter dem allgemeinen Slogan "Der Islam ist die Lösung" sehr unterschiedliche Flügel zusammengehalten hat. Obwohl es schon seit Jahrzehnten immer wieder Reformdebatten innerhalb der Bruderschaft gibt, ist sie in ihren Weltbildern stets konservativ geblieben.

Der Verfolgungsdruck von Seiten des Staates war zu groß, als dass es ausreichend Raum für Erneuerung gegeben hätte. Stattdessen haben sich die Muslimbrüder nach außen abgeschottet – Zusammenhalt und Schutz gegen äußere Feinde waren wichtiger als Reformen.

Der Führungselite und der älteren Generation fällt es auch nach dem Sturz Mubaraks schwer, sich von dieser Haltung zu lösen. Der Korpsgeist innerhalb der Bruderschaft ist noch immer sehr ausgeprägt. Öffentliche Kritik von Mitgliedern an der eigenen Organisation gilt als inakzeptabel.

Und dennoch sind auch die Muslimbrüder nicht immun gegen das neue offenere politische Klima in Ägypten. Vor allem viele der jüngeren Generation innerhalb der Organisation, die sich wie ihre Altersgenossen vor einem Jahr an den Demonstrationen beteiligt haben, fordern offene Debatten über den künftigen Kurs der Organisation.

Ein Umbruch mit offenem Ausgang

Islam und Demokratie sind für sie keine Gegensätze, vielmehr geht es darum, in welcher Form sie miteinander vereinbart werden können. Sie sehen genau, dass das "türkische Modell" wesentlich erfolgreicher ist als das "iranische". Es gibt keinen Grund, ihren Bekenntnissen zur Demokratie keinen Glauben zu schenken.

Auch die bisherigen Aussagen des politischen Arms der Muslimbrüder, der "Partei für Freiheit und Gerechtigkeit", lassen die Hoffnung zu, dass sie es ernst meint mit einem demokratischen System. Ihr ist zudem klar, dass jede Form einer neuen Diktatur, egal ob in militärischem oder religiösem Gewand, massiven Widerstand auf der Straße provozieren wird.

Es ist das größte Verdienst des Aufstands in der arabischen Welt, dass sich vor allem die Jüngeren von passiven Untertanen einer Diktatur in aktive Bürger verwandelt haben, die sich einmischen.

Es gibt keine Garantie, dass die Transformation in Ägypten und anderen arabischen Ländern am Ende überall in durch und durch demokratischen Staaten endet. Die Chancen, die sich mit dem Umbruch in der arabischen Welt verbinden, sind aber allemal größer als die Risiken.

Jan Kuhlmann

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de