Die unvollendete Revolution

Obwohl Frauen seit dem Beginn des Arabischen Frühlings aktiv an den Protesten teilgenommen haben, bleiben sie auch nach dem Sturz der autokratischen Regimes weiterhin Bürger zweiter Klasse. Ein Kommentar von Moha Ennaji

Von Moha Ennaji

Nach Interviews mit Frauen in der Region war ich schockiert über ihren allgemeinen Pessimismus. Sie haben Angst, ihre Rechte zu verlieren. Ringsum sehen sie den wirtschaftlichen Niedergang, was zu einer weiteren Zunahme von Gewalt führen könnte. Im Zuge des Verfalls sozialer Bindungen fühlen sie sich zunehmend verletzlich. Mehr als einmal hörte ich die Aussage, vor den Revolutionen sei die Lage besser gewesen.

Nach dem Arabischen Frühling ist der Anteil von Frauen in Parlamenten oder Regierungskabinetten gering oder gleich Null, und Frauenaktivistinnen sind besorgt, islamistische Parteien könnten eine reaktionäre Politik einführen, die Frauen diskriminiert.

Die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit beispielsweise, die das ägyptische Parlament dominiert, würde keine Frau als Präsidentin zulassen. An den Protesten, die 2011 das Regime des ehemaligen Präsidenten Hosni Mubarak zu Fall brachten, waren die ägyptischen Frauen stark beteiligt, aber seitdem wurden sie von jeder offiziellen, entscheidungstragenden Rolle ausgeschlossen.

Schwere Rückschläge für Frauen

Frauen wählen in Rabat/Marokko, Nov. 2011, Foto: Abdeljalil Bounhar/AP/dapd
Politische Partizipation unerwünscht: In Marokko ist nur eine einzige Frau in der islamistisch geführten Regierung vertreten. Im früheren Kabinett waren es acht.

​​In Marokko saßen acht Frauen im vorherigen Kabinett, heute - unter der islamistisch geführten Regierung - nur noch eine. Im Januar verabschiedete das von Islamisten dominierte Parlament ein Dekret, das das Heiratsalter für Mädchen von 18 Jahren auf 16 senkt - ein deutlicher Rückschritt. Marokkanische Feministinnen haben scharf protestiert, aber vergeblich.

Auch die parlamentarische Repräsentation der Frauen hat einen Rückschlag erfahren. Gegenwärtig sind im ägyptischen Parlament nur noch ein Prozent der Sitze von Frauen besetzt. Vorher waren es zwölf Prozent. In Libyen wurde durch einen ersten Entwurf des Wahlrechts zehn Prozent der Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung für Frauen reserviert, doch wurde diese Quote wurde später revidiert.

In Tunesien wurden 2011 49 Frauen in die verfassungsgebende Versammlung mit ihren insgesamt 217 Sitzen gewählt. Aber 42 dieser Frauen sind Mitglieder der Ennahda, die die Scharia (das islamische Recht) als Grundlage der Gesetzgebung ansieht. Erfahrene tunesische Aktivisten sind besorgt, die in der Versammlung tonangebende Ennahda könnte die Anwesenheit weiblicher Parlamentsmitglieder dazu verwenden, die Frauenrechte einzuschränken.

Nach dem Attentat auf den säkularen tunesischen Oppositionsführer Chokri Belaid hat sich die Situation für die Frauen in dem nordafrikanischen Land weiter zugespitzt. Belaid hatte sich für Frauenrechte eingesetzt, und diejenigen, die für die säkulare Gleichheit aller Tunesier eintreten, sind verstärkt durch politische Gewalt bedroht.

Belästigt, verhaftet und vergewaltigt

Zwei Frauen protestieren auf der Beerdigung von Belaid, Foto: Khaled Ben Belgacem/DW
Protest gegen islamistische Gewalt und Intoleranz: nach dem Mord an Chokri Belaid demonstrieren zwei Frauen auf der Beerdigung des populären liberalen Oppositionspolitikers in Tunis.

​​Leider wenden sich konservative Kräfte in der arabischen Welt bei politischen Unruhen immer wieder gegen Frauen. In Bahrain wurden mehrere weibliche Protestierende eingesperrt und gefoltert. Im Jemen fordern die Behörden Männer auf, ihre weiblichen Verwandten zu "zähmen".

In Tunesien, dem vom Charakter her westlichsten der arabischen Länder, wurden Frauen an Universitäten und Schulen in jüngster Vergangenheit angegriffen und dazu gezwungen, den Hijab zu tragen. Als eine Frau, die im September 2012 angeblich von zwei Polizisten vergewaltigt worden war, Beschwerde einlegte, wurde sie wegen Unsittlichkeit angeklagt.

Auch in Ägypten werden weibliche Protestierende strenger behandelt als männliche. Die Frauen, die während der Demonstrationen gegen Mubarak vom Militär verhaftet wurden, mussten sich Jungfräulichkeitstests unterzogen. Im gesamten Nahen Osten haben islamische Milizen Demokratie-Aktivistinnen belästigt, verhaftet, vergewaltigt und gefoltert.

Das Modell der Islamischen Revolution im Iran von 1979, das Frauen zu Bürgern (wenn auch zweiter Klasse) machte, wird in arabischen Ländern, die heute von islamistischen Parteien regiert werden, immer wieder als Bedrohung wahrgenommen.

Am Scheideweg

Diese Länder befinden sich am Scheideweg. Die Hälfte der Bevölkerung des Nahen Ostens besteht aus Frauen, und jede Hoffnung auf politische und wirtschaftliche Entwicklung muss diese Tatsache berücksichtigen.

Organisationen wie das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen haben wiederholt Berichte veröffentlicht, in denen die Verbindung zwischen wirtschaftlichem Niedergang und der Unterdrückung von Frauen aufgezeigt wird. Einfach ausgedrückt: Die arabischen Länder werden erst dann Erfolg haben, wenn Frauen im politischen und wirtschaftlichen Leben vollständig integriert sind.

Frauen stehen neben einem regierungsfeindlichen Graffiti Schlange, Foto: Reuters/Stringer
Politisch und sozial marginalisiert: Ägyptische Frauen waren an den Protesten gegen die Mubarak-Diktatur aktiv beteiligt, doch inzwischen sind sie größtenteils von den politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen.

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Die jemenitische Politaktivistin Tawakkol Karman stellte diesen Punkt in ihrer Rede zur Annahme des Friedensnobelpreises 2011 klar heraus: "Die Lösung der Probleme der Frauen kann nur in einer freien und demokratischen Gesellschaft erfolgen, in der die Energie der Männer und auch der Frauen gemeinsam befreit ist."

Die Länder des Nahen Ostens müssen die Rechte der Frauen schützen und ausbauen, um ihre demokratischen Ideen und Gewohnheiten zu stärken. Sie müssen die Universelle Erklärung der Menschenrechte und andere internationale Gesetze und Vereinbarungen einhalten, um geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt auszurotten. Die Hoffnung auf den Fortschritt der Frauen ist in Wirklichkeit eine Hoffnung auf eine gerechte Zivilgesellschaft, in der Entwicklung für alle möglich ist.

Moha Ennaji

Moha Ennaji ist Professor für "Cultural and Gender Studies" an der Sidi Mohammed Ben Abdellah Universität und Präsident des International Institute for Languages and Cultures in Fez, Marokko.

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de