''Der Geist der Revolution wird mit Füßen getreten''

Mit ungewohnt scharfen Worten kritisiert der linke Oppositionsführer Hamdeen Sabahi im Interview mit Markus Bickel die Wahl zur neuen Verfassung: Ägyptens Präsident Mohammed Mursi solle das Referendum stoppen, weil es der Nation schade.

Von Markus Bickel

Herr Sabahi, warum sind Sie gegen den Entwurf für eine neue Verfassung?

Hamdeen Sabahi: Weil sie den gesunden Menschenverstand der Ägypter beleidigt. Die Versammlung, die diese Verfassung erarbeitet hat, war nicht repräsentativ. Und der Entwurf, der dabei herauskam, missachtet grundlegende Freiheiten und Rechte, vor allem sozialer und wirtschaftlicher Art. Der Geist der Revolution wird darin mit Füßen getreten.

Zu islamisch geprägt ist Ihnen die Verfassung nicht?

Sabahi: Ägyptens Problem ist nicht der Islam, es ist auch nicht die Scharia. Dem entsprechenden Artikel 2 in der geplanten Verfassung hat auch die koptische Kirche zugestimmt. Sowohl Christen wie Muslime pflegen in Ägypten einen toleranten Glauben, keinen fundamentalistischen. Das Problem mit dem Verfassungsentwurf hat nichts mit Religion zu tun, sondern mit dem Mangel an Demokratie und fehlenden Rechten für die Armen.

Mohammed ElBaradei will die Volksabstimmung boykottieren, Sie haben dazu aufgerufen, mit Nein zu stimmen.

Sabahi: Ja, aber unsere Teilnahme haben wir an Bedingungen geknüpft. Falls es zu Wahlbetrug kommt, werden wir uns vor dem zweiten Wahlgang zurückziehen. Und an unserer alten Forderung halten wir fest: Mursi sollte dieses Referendum stoppen, weil es Ägypten schadet.

Was macht die Opposition, wenn die Bevölkerung die Verfassung annimmt?

Sabahi: Wir werden das Ergebnis akzeptieren – und unseren friedlichen Kampf gegen die Inhalte der Verfassung fortführen.

Die Stimmzettel zur ersten Runde des Verfassungsreferendums werden in Kairo ausgezählt; Foto: AP
Am vergangenen Samstag fand in Ägypten der erste von zwei Durchgängen des Verfassungsreferendums statt. Das bisherige Ergebnis zeigt eine Mehrheit von rund 56 Prozent für den Verfassungsentwurf, die Opposition prangert jedoch Wahlrechtsverstöße an und fordert eine Wahlwiederholung.

​​Was können Sie als Oppositionsführer tun, die Spaltung zwischen Anhängern und Gegnern Mursis zu überwinden?

Sabahi: Vorweg: Die Spaltung hat nichts mit Religion zu tun, religiös sind alle Ägypter. Außerdem sind wir politische Konkurrenten, keine Feinde, so dass wir zu einem Kompromiss finden müssen. Das sagen wir auch unseren Anhängern.

Präsident Mursi hat zu einem nationalen Dialog aufgerufen. Warum sind Sie der Einladung nicht gefolgt?

Sabahi: Weil er nicht als Dialog auf Augenhöhe angelegt war. Mit seinem Verfassungsdekret im November hat er uns die Klinge an die Brust gesetzt, eine Verständigung ist deshalb vorerst nicht möglich. Denn trotz der Rücknahme des Dekrets hat er unsere Forderung nach Verschiebung des Referendums nicht berücksichtigt.

Mursi hat seine Sondervollmachten mit einem angeblich geplanten Verfassungsputsch des höchsten Gerichts begründet.

Sabahi: Das ist eine Lüge. Beim Verfassungsgericht hängen lediglich Klagen gegen den Schura-Rat und die verfassungsgebende Versammlung an, nicht gegen den Präsidenten. Und selbst wenn eine Klage gegen ihn vorläge, wäre es das gute, in der Verfassung verankerte Recht des Gerichts, diese zu prüfen. Steht der Präsident über dem Gesetz? Nein, er ist dem Volk zur Rechenschaft verpflichtet.

Sollte das Militär in so aufgeheizten Zeiten wieder eine größere Rolle spielen?

Sabahi: Anders als Mursi, der sich als Vertreter einer bestimmten Gruppe versteht, vertritt die Armee alle Ägypter. Sie ist eine unabhängige nationale Institution, die respektiert wird. Deshalb sind wir ihrer Einladung zum Dialog auch gefolgt – aber das Treffen wurde später abgesagt.

Der Slogan der Muslimbrüder lautet "Der Islam ist die Lösung". Sehen Sie den Sozialismus als Lösung für die Probleme Ihres Landes?

Sabahi: Ägypten braucht eine lagerübergreifende Lösung. Soziale Gerechtigkeit und Islam ergänzen sich, wenn man dessen Glaubensgrundsätze ernst nimmt, dass Gott auf der Seite der Armen und Entrechteten steht. Soziale Gerechtigkeit war auch die wichtigste Forderung der Revolution vom 25. Januar, schließlich sind die meisten Ägypter arm.

Warum ist Verständigung zwischen linken und liberalen auf der einen sowie islamistischen Kräften auf der anderen Seite dann so schwer?

Sabahi: Weil das Wirtschaftsprogramm der Islamisten aus der Mubarak-Ära stammt. Sie setzen auf freie, uneingeschränkte Marktwirtschaft und berauben Ägypter damit ihrer sozialen und wirtschaftlichen Rechte. So gesehen ist es für mich gleich, ob ich von Mursi oder Mubarak regiert werde.

Was würde Ihr Vorbild, Ägyptens erster Präsident Gamal Abdel Nasser, in dieser Lage tun?

Sabahi: Jeder echte Führer würde versuchen, sein Volk hinter sich zu scharen. Mursi aber spaltet die Nation statt sie zu vereinen. Dabei wäre es nach dieser großartigen Revolution so wichtig, die Ägypter neu zusammenzubringen, auf der Grundlage gemeinsamer Verständigung, unabhängig vom Ausgang freier Wahlen. Unter Druck von oben kann diese Geschlossenheit nicht entstehen, weshalb Mursi kein echter Führer ist.

Sabahi auf dem Tahrir-Platz; Foto: Reuters
Von seinen Anhängern als Volksheld gefeiert: Der frühere Präsidentschaftskandidat Hamdeen Sabahi glaubt, dass das Problem mit dem Verfassungsentwurf nichts mit Religion zu tun hat, sondern mit dem Mangel an Demokratie und fehlenden Rechten für die Armen.

​​Unter die Verfassungsgegner haben sich Mitglieder des alten Regimes gemischt. Welche Rolle spielen sie?

Sabahi: Keine. Wir sind die wahren Führer der Revolution, Mursi und die Bruderschaft haben sich uns angeschlossen.

Wird die Opposition vereint in die Parlamentswahlen im neuen Jahr gehen?

Sabahi: Das hoffe ich. Wir setzen darauf, dass unsere Allianz so weit gespannt ist, dass sie Demokratie und soziale Gerechtigkeit als Alternative zum herrschenden System anbietet. Es geht nicht um den Islam, sondern um die Verteidigung der Errungenschaften der Revolution.

Präsident Mursi hat für seine Diplomatie im Gaza-Krieg viel Anerkennung erfahren.

Sabahi: Ja, weil er das gleiche getan hat wie vor ihm Mubarak: sich den Interessen Israels und Amerikas zu unterwerfen. Nur mit dem Unterschied, dass Ägypten nun zum ersten Mal als Polizist eingesprungen ist, der die Sicherheit Israels verteidigt, indem es die Hamas daran hindert, Raketen abzuschießen. Von daher wundert es mich nicht, dass die Vereinigten Staaten Mursi dankbar sind.

Was würde ein Präsident Sabahi außenpolitisch anders machen?

Sabahi: Ich würde sicherlich Ägypten nicht in einen Krieg mit Israel verwickeln. Aber auf Grundlage des Friedensvertrags würde ich ein Verhältnis in Würde anstreben. Auch gegenüber der amerikanischen Regierung übrigens: Das alte Verhältnis als Satellit der Vereinigten Staaten gehört überholt, das neue muss auf Gleichberechtigung beruhen.

Zwei Jahre nach Beginn der arabischen Aufstände steckt Ihr Land in einer Staatskrise, in Syrien herrscht Krieg. Ist der arabische Frühling vorbei?

Sabahi: Der arabische Frühling geht weiter, auch wenn er Zeit zum Gedeihen braucht. Außerdem kommt nach jedem Winter wieder ein neuer Frühling, das ist unsere Hoffnung, dafür kämpfen wir.

Das heißt, Sie sehen die Islamisten nicht als Sieger der Revolution.

Sabahi: Es gab nirgendwo in der arabischen Welt islamistische Revolutionen, sondern Volksaufstände, an denen viele Bevölkerungsgruppen beteiligt waren. Das respektieren wir. Aber wir werden nicht zulassen, dass die Islamisten die Revolution stehlen.

Interview: Markus Bickel

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2012

Der 1954 geborene Sabbahi wurde wegen seiner Kritik an den Präsidenten Anwar al-Sadat und Hosni Mubarak mehrfach inhaftiert. 2004 zählte er zu den Mitgründern des Oppositionsbündnisses "Kifaya" ("Es reicht").

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de