Kabul, ein Stadtspaziergang

Zwei Wochen lang reist unser Autor Marian Brehmer um den Jahreswechsel des persischen Kalenders durch Afghanistan. In Masar-i-Scharif und Kabul spricht er abseits des Krieges mit den Menschen im Land. Welche Hoffnungen haben sie für das neue Jahr und wie sehen sie die politischen Entwicklungen am Hindukusch?

Wo beginnen mit der Entdeckung dieser Stadt, in der sich Geschichte und Geschichten dem Besucher geradezu aufdrängen? Ich laufe auf der Darulaman-Straße stadteinwärts. Einige Kilometer hinter mir liegt der Darulaman-Palast, der einst im Auftrag des afghanischen Königs Amanullah Khan gebaut wurde. Brände unter den Kommunisten und Raketen unter den Bürgerkriegsherren ließen ihn zu einer gespenstischen Ruine werden.

Vor meiner Nase, am Eingang zum Stadtzentrum, ragt der 2107 Meter hohe Kohi Asmayi auf. Wegen seiner vielen Funkmasten wird der Berg auch "TV Mountain" genannt. Seit dem Fall der Taliban hat Afghanistan einen beispiellosen Medienboom erlebt.

Kabul befindet sich irgendwo zwischendrin: Die langen Schatten von dreißig Jahren Gewalt und Zerstörung sind für alle sichtbar. Doch Kabul ist auch eine Stadt, die nach einer langen Lähmung endlich wieder laufen lernt.

Taxis und Kleinbusse rauschen vorbei und wirbeln mir dichten Staub ins Gesicht. Staubwolken sind neben der Sicherheit der Hauptgrund, weshalb die meisten berufstätigen Afghanen – ganz zu schweigen von den Hundertschaften von Ausländern, die in Kabul bei internationalen Organisationen oder Medien arbeiten – auch kleine Strecken in geschlossenen Vehikeln zurücklegen.

Der im Bürgerkrieg vollständig zerbombte Darulaman-Palast; Foto: Marian Brehmer
Schatten der Vergangenheit: Der im Bürgerkrieg vollständig zerbombte Darulaman-Palast gibt ein gespenstisches Bild ab.

​​Am Ende der Darulaman-Straße steht ein Bau, der einmal extravagant ausgesehen haben muss. Was seit dem Bürgerkrieg gespickt ist mit zahllosen Einschusslöchern und Kratern, war einmal das sowjetische Kulturzentrum, in dem die afghanisch-russische Freundschaft propagiert wurde.

Im Bürgerkrieg war das Gebäude von Hazara-Kämpfern besetzt, während die Warlords Schah Massud und Gulbuddin Hekmatyar von den beiden Bergen der Stadt aus Raketen abfeuerten. Die Jahre 1992 bis 1996 waren die verlustreichsten für Kabul, die Stadt wurde zu großen Teilen in Schutt und Asche gelegt.

Meine Füße tragen mich an einen weiteren Ort, der während der Kriege kräftig in Mitleidenschaft gezogen wurde: der Kabuler Zoo. Am Eingang, Ausländer zahlen doppelt, steht eine bronzene Statue der Löwin Marjan. Die Löwin war ein Geschenk des Kölner Zoos aus dem Jahr 1978. Von der Ermordung des ersten afghanischen Präsidenten Mohammed Daoud Khan 1978 bis zum Fall der Taliban 2001 überlebte das Tier die einschneidendsten Momente in der jüngeren afghanischen Geschichte.

Marjan erblindete, als ein Soldat das Tier Mitte der neunziger Jahre mit Handgranaten bewarf. Der Mann wollte den Tod seines Bruders rächen, der tags zuvor bei einer Wette in den Löwenkäfig geklettert und dabei ums Leben gekommen war. Die Löwin starb 2002 eines natürlichen Todes und wurde von der Weltpresse zu einem Symbol der Leidensgeschichte Afghanistans erklärt.

Tête-à-tête mit den Geiern: ein paschtunischer Zoobesucher; Foto: Marian Brehmer
Tête-à-tête mit den Geiern: ein paschtunischer Zoobesucher in Kabul

​​Marjans Nachfolgerin, ihrerseits ein Geschenk Chinas, lebt in ruhigeren Zeiten. Das Tier liegt regungslos in der Sonne dösend auf seinem Rücken, alle vier Pfoten von sich gestreckt. Einige Käfige weiter nimmt ein behäbiger Braunbär in seinem viel zu kleinen Gehege ein Mittagsbad. Ein Turban tragender Mann und eine mit Burka verhüllte Frau starren gebannt durch die Gitterstäbe.

Plötzlich erhebt sich der Bär, trottet aus dem Becken und schüttelt sich das Wasser vom Leib. Dann richtet sich das Tier auf und reibt sein Hinterteil an einem Pfosten trocken. Verstohlen kichert der Mann mit Turban in seinen Bart hinein. Eine verzückte Kinderschar folgt dem Schauspiel mit großen Augen.

Auf den schmalen Rasenflächen zwischen den Käfigen haben sich Familien zum Picknick niedergelassen. Am Wolfsgehege versuchen Jungs mit kleinen Steinchen die lethargisch auf dem Boden liegenden Tiere zum Aufstehen zu bewegen. Von der anderen Seite des Zoos schallt ein konstanter Kreischpegel herüber. Geräuschquelle sind ein buntes Riesenrad und eine Schiffsschaukel, die einen Hauch von Jahrmarkt in den Zoo bringen.

Zehn Gehminuten vom Zoo entfernt winkt mich ein Herr mittleren Alters herbei, der in einer auf Kippe stehenden Schubkarre sitzt. Er bietet mir einen Platz an und schickt einen Jungen Tee holen. Der Junge verschwindet hinter einer Reihe von Metallwerkstätten, in denen Arbeiter mit Schweißen und Hämmern beschäftigt sind. Eine davon gehört dem Mann in der Schubkarre, der sich mir als "Agha Baschir" vorstellt.

"Aus Deutschland?", ruft Agha Baschir entzückt. Sechs Jahre habe er dort gelebt. "Als die Taliban kamen, bin ich gegangen", erzählt er auf Dari, während ich angestrengt versuche, zumindest die Hälfte seiner ausführlichen Schilderungen zu verstehen. Agha Baschir arbeitete in Stuttgart in einem Lebensmittelladen. Das erklärt, warum die einzigen hängengebliebenen Wörter auf Deutsch "Schafskäse", "Oliven" und "Paprika" sind.

Viele seiner Verwandten sind immer noch in Süddeutschland. "Als die Taliban gingen, bin ich wiedergekommen", sagt er. Dann fuchtelt Agha Baschir mit den Armen und macht eine alarmierende Prognose. Er glaubt, dass nach dem Abzug der ausländischen Truppen aus Afghanistan die Taliban nach Kabul zurückkommen. Ob er dann wieder das Land verlassen würde, möchte ich wissen. Er macht ein "Inschallah"-Achselzucken. Karsai sei korrupt und werde das Land nicht ohne Hilfe der Ausländer halten.

Im Kabuler Basar; Foto: Marian Brehmer
Rückkehr zur Normalität: "Je näher ich dem Stadtzentrum komme desto geschäftiger und normaler scheint das Leben am Straßenrand. Das brennende Afghanistan der Medien könnte ferner nicht sein", beobachtet Marian Brehmer.

​​"Haben Sie schon gegessen?", wechselt Agha Baschir das Thema und drückt dem Jungen einen 50-Afghani-Schein in die Hand. Mit iranischem Tütenkuchen und Agha Baschirs Pessimismus im Magen ziehe ich kurze Zeit später weiter.

Je näher ich dem Stadtzentrum komme desto geschäftiger und normaler scheint das Leben am Straßenrand. Das brennende Afghanistan der Medien könnte ferner nicht sein. Kleine Lebensmittelgeschäfte, aneinandergereiht wie die Glieder einer Kette, verkaufen dicke Säcke voll Mehl, Reis und Lutschbonbons. Bald werden sie abgelöst von Handy- und Technikläden, die einen steten Kundenstrom anziehen.

Hier treffe ich Aryan. Der 24jährige trägt Jeans und einen gegelten Scheitel. Er spricht gutes Englisch und versucht sich an einem amerikanischen Akzent. "Ich arbeite in Herat als Übersetzer für das US-Militär", erzählt Aryan. Viele gut ausgebildete junge Afghanen haben in den letzten Jahren Jobs bei den ausländischen Truppen gefunden – Arbeitsplätze, die 2014 wohl erstmal verloren gehen werden.

Auch Aryan hat Verbindungen nach Deutschland, mehrere Onkel wohnen dort. Seine Cousins sind im selben Alter. Sie wurden in Deutschland geboren und haben noch nie das Land ihrer Eltern besucht. Im Sommer wollen sie das erste Mal nach Kabul kommen, haben aber Angst davor. Aryan telefoniert öfters mit ihnen: "Immer wenn im Fernsehen von einer Bombe berichtet wird, denken sie, hier sei die Hölle los. Aber es gibt auch eine andere Seite. Kabul ist sicher, wir leben doch hier!"

Marian Brehmer

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de